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KONSERVATIVE Parteien : »Die Union merkte gar nicht, dass sie den Anschluss verpasste«

Der Historiker Daniel Schmidt über die Reaktion von CDU und CSU auf die Herausforderungen durch die 68er

08.01.2018
2023-08-30T12:33:47.7200Z
4 Min

Die 68er revoltierten gegen die Zustände eines maßgeblich von der Union geprägten Landes. Wie reagierte die Union darauf?

Zunächst eher milde lächelnd. Die Union war selbstbewusst, aber auch selbstzufrieden. In den frühen 1960ern konnte sie eigentlich vor Kraft kaum laufen, ging sie doch mit einer absoluten Mehrheit in das Jahrzehnt. Sie merkte gar nicht, dass sie den Anschluss an den sich wandelnden Zeitgeist verpasste und zunehmend unter Druck geriet. Die Union hatte einerseits hausgemachte Probleme, indem sie ihre Kräfte in einem schmerzvollen Emanzipationsprozess von Adenauer verschliss. Anderseits war sie durch soziale und politische Wandlungsprozesse grundsätzlich herausgefordert. Dazu zählte eine sich am Horizont abzeichnende Rezession, aber natürlich auch die zunehmende Politisierung der jungen Generation. Die Union musste 1969 in die Opposition und konnte auch bei der Bundestagswahl 1972 nicht überzeugen. Es mehrten sich die Rufe nach einer Erneuerung.

Wer waren die maßgeblichen Reformer?

Die Modernisierung war das explizite Ziel einer sehr heterogenen Richtung innerhalb von Partei und Parteiführung. Die für die CDU vollkommen ungewohnte Oppositionsrolle nach den Wahlniederlagen wurde als große Katastrophe empfunden. Diese historische Situation hat die CDU in die Lage versetzt, grundsätzlich über sich nachzudenken. Für eine Erneuerung standen etwa ein Teil der Jungen Union ein, die sogenannten Alternativen-68er und die Sozialausschüsse, also der Arbeitnehmerflügel, der beispielsweise durch Norbert Blüm verkörpert wurde. Es gab aber auch wirtschaftsnahe Protestanten wie Walther Leisler Kiep oder Richard von Weizsäcker. Die waren alle durchaus bereit, einige Jahre in der Opposition zu verbringen, um der Partei ein neues programmatisches Profil zu verleihen. Dabei waren die Erneuerer der Auffassung, dass ein prononcierter konservativer Kurs den Zusammenhalt der Union gefährden und nicht zum politischen Erfolg führen würde. Dieser sollte vielmehr in der Mitte gesucht werden. Wir sollten aber nicht den zentralen Akteur vergessen: Helmut Kohl, der ab 1973 den Parteivorsitz der CDU übernahm.

Wie stand Kohl zu den Reformbestrebungen?

Kohl pflegte zwar das Image des jugendlichen Reformers, war aber alles andere als ein blauäugiger Idealist, sondern ein pragmatischer und nüchterner Machtpolitiker. Er setzte darauf, dass eine realistische Perspektive auf einen Machtwechsel innerparteiliche Differenzen überbrücken würde. Kohl hatte aber den Mut, auf neue Leute zu setzen, etwa auf Kurt Biedenkopf, den er als Generalsekretär einsetzte. Biedenkopf baute die Bundesgeschäftsstelle der CDU zu einer sehr modernen Einrichtung aus - und da kamen dann die CDU-eigenen 68er ins Spiel.

Wer waren diese 68er?

Das waren Personen wie Peter Radunski, Horst Teltschik oder Wulf Schönbohm. Die kamen aus dem Berliner Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) und hatten am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität studiert. Sie sind also im Brennpunkt der 68er Bewegung politisch sozialisiert worden. Das waren eigentlich die ersten in der CDU, die das wirklich ernst genommen haben und sich mit dem neuen politischen Stil, mit den Argumenten und der subversiven Praxis der Neuen Linken inhaltlich auseinandersetzen wollten. Aus ihrer Sicht war diese Bewegung kein Zufall, sondern spiegelte einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandel wider, der dazu führte, dass die Zustimmung zu den politischen Angeboten der Union rasant abnahm. Sie sorgten sich um das künftige Wählerpotenzial der Union.

Gab es ein Zugehen auf die 68er?

Diese Alternativen-68er wollten die CDU nicht unbedingt nach links verschieben. Es gab zwar aus heutiger Sicht obskur wirkende Entwicklungen, etwa eine Kinderladenbewegung innerhalb des RCDS in Berlin, aber dazu gehörten die wirkmächtigen RCDSler nicht. Das waren nüchterne Analysten. Sie gingen davon aus, dass man einerseits Kritikpunkte ernst nehmen sollte, beispielsweise was Demokratie und Partizipationsmöglichkeiten anging. Andererseits stellten sie auch fest, dass sich die politische Praxis der Union ändern musste. Es ging ihnen also nicht nur um inhaltliche Reformen, sondern auch um organisatorische Effizienz und eine erhöhte Kommunikationsfähigkeit gegenüber neuen Zielgruppen. Peter Radunski wurde in den 1970ern und 1980ern so zum Fachmann der CDU für Organisation und Kommunikation und führte viele erfolgreiche Wahlkämpfe, während zum Beispiel Schönbohm als Programmfachmann galt. Diese Herren hätten aber nicht so viel bewegen können, wären sie nicht von Kohl und Biedenkopf protegiert worden, die ihnen zugestanden, ihre Ideen zu realisieren.

Und die gescholtenen Konservativen in der Union haben das mitgemacht?

Die fanden das alles andere als lustig. Anpassungs- und Veränderungsbereitschaft waren in der Union begrenzt. Das war vor allem bei der CSU der Fall. Die Christsozialen hatten nämlich komplett gegensätzliche Erfahrung gemacht. Die CSU hatte durch massive konservative Zuspitzung und einen sehr nationalen Kurs in den frühen 1970ern sehr gute Wahlergebnisse erzielt. Das galt auch für die hessische CDU unter Alfred Dregger. Dementsprechend sah Dregger auch keinen Anlass dazu, von dem Konfrontationskurs abzusehen. Vielmehr sah er eben in einer scharfen polarisierenden Konfrontation mit dem politischen Gegner die Chance, auf Bundesebene die absolute Mehrheit zu gewinnen. Die CDU sollte eben nicht mittelfristig die FDP durch programmatische Zugeständnisse als Koalitionspartner zurückgewinnen, sondern zu einer klaren Alternative für nationalliberal orientierte Menschen werden.

Also eine Mobilisierung der "schweigenden Mehrheit" gegen die 68er?

Im Prinzip ja. In diesem Zusammenhang wurde auch der Plan einer "Vierten Partei"

ventiliert, die als eine Art Sammlungsbewegung rechts von der Union fungieren sollte, um sowohl nationalliberale FDP-Wähler als auch Wähler der NPD zu binden und der Union dann wiederum eine Mehrheitsoption im Bund zu sichern. Vor allem die CSU hat damals damit geflirtet als eine Art Ausweitung der CSU auf Bundesebene. Das wurde letztlich nicht realisiert, war aber ein Gedankenexperiment, das Mitte der 1970er Strahlkraft entfaltete. Kohl fand das alles völlig albern, weil er mit den Leuten, die sich in einer solchen "Vierten Partei" gesammelt hätten, eigentlich nichts zu tun haben wollte..

Das Gespräch führte Sören Christian Reimer.

Daniel Schmidt ist Historiker am Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen und hat unter anderem zur Geschichte der CDU in den 1960er und 1970er Jahren publiziert.