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PRAGER FRÜHLING : Dubcek statt Dutschke

Reformen beim Nachbarn weckten 1968 in der DDR Hoffnungen auf einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«

08.01.2018
2023-08-30T12:33:47.7200Z
7 Min

Für Mitglieder des Politbüros und des Zentralkomitees der SED muss das Jahr 1968 ein Jahr des doppelten Staunens gewesen sein: Auf dem Ku'damm protestierte die Westjugend gegen Vietnamkrieg und Springer-Presse. Und im benachbarten Bruderland der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (CSSR) sprachen derweil hohe Funktionäre der Schwesterpartei von einem "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" und fanden damit Anklang in der Bevölkerung ganz ohne die sonst üblichen erzieherischen Mittel von Zwang und Bevormundung.

Wie aber war es möglich, dass unter den Bedingungen des Kalten Krieges im eisern geführten und sowjetisch dominierten Ostblock ein Satellit wie die CSSR vom vorbestimmten Kurs abwich und in einer kommunistischen Partei der Wunsch nach Lockerung, Liberalisierung und Demokratisierung laut wurde?

Vorausgegangen war den Prager Ereignissen 1968 ein Tauziehen zwischen Dogmatikern und Wirtschaftsreformern in der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSC). Reformer um den Wirtschaftswissenschaftler Ota Sik entwickelten seit Anfang der 1960er Jahre Ideen, um der wirtschaftlichen Stagnation zu begegnen, die das Land auch im RGW-Maßstab abzuhängen drohte. Offen diskutiert wurde zum Beispiel über die Zulassung von mehr Wettbewerb und die Bildung unabhängiger Gewerkschaften, über Joint Ventures mit westlichen Unternehmen und das Ende der staatlichen Preisbildung. Dogmatiker mit Absolutheitsanspruch vom Primat der Partei witterten bei solchen Gedanken bereits die Konterrevolution. Und dennoch konnte sich der Reformflügel der KSC zum Jahreswechsel 1967/68 mit der Wahl Alexander Dubceks durchsetzen und sich des Rückhalts in zwei gesellschaftlichen Lagern stützen. Zum einen hatte sich Prag in den 1960er Jahren eine Intellektuellen- und Kulturszene entwickelt, in der freier diskutierte werden konnte als in anderen Ostblock-Staaten. Bereits 1963 sorgte eine Kafka-Konferenz in Liblice nicht nur unter Literaturwissenschaftlern für Aufruhr. Einige Teilnehmer hatten dort offen über die Frage diskutiert, ob die Entfremdung des Menschen auch im Sozialismus noch existiere, eine Überlegung zu der einst von Karl Marx skizzierten Entfremdungsthese, die sich nicht nur gegen die übliche Exegese kommunistischer Parteien wandte, sondern auch in anderer Form von Herbert Marcus, einer philosophischen Leitfigur der West-68er, gestellt wurde. Unterstützung erhielten die Reformkommunisten in Prag 1968 außerdem von slowakischer Seite: Die Slowakei profitierte zwar von ihrer Eingliederung in die CSSR, die für den Landesteil einen industriellen und infrastrukturellen Modernisierungsschub bedeutete, allerdings forderten die Slowaken mehr politische Mitsprache in Prag. Die Wahl des 47-jährigen Slowaken Dubcek an die Spitze der KSC galt als ein wichtiges Zugeständnis.

Für die DDR-Führung waren die ideologischen Lockerungsübungen im Nachbarland eine Zumutung - wie für eigentlich alle Führungen in den Ländern des Warschauer Paktes. Die Prager Genossen zeigten ja, dass sich dem "real existierende Sozialismus", mit seinen Zwängen und Kompromissen, die natürlich nie eigenen Widersprüchen und Konflikten sondern stets dem Wirken des ideologischen Klassenfeindes im Westen zugeschrieben wurden, ein Sozialismusentwurf entgegensetzen ließ, mit dem sich die Hoffnung auf mehr Freizügigkeit, mehr Wohlstand und weniger geistiger Enge und Gängelung verband. Nicht zu Unrecht sorgten sich die Führungen in Ost-Berlin, Warschau, Budapest, Sofia oder Moskau, dass das Experiment in Prag Strahlkraft bis in die eigenen Reihen hinein entwickeln könnte. Umfragen im Nachbarland zeigten, dass sich rund 90 Prozent der Tschechen und Slowaken hinter Dubceks Reformpläne stellte. Ihnen ging es nicht um die Abschaffung des Sozialismus, sondern um mehr demokratische Mitsprache und weniger Hörigkeit gegenüber der Moskauer Zentrale.

Für die Genossen im restlichen Ostblock ein kaum auflösbares Dilemma: Sie konnten das Experiment mit Gewalt beenden und damit die Hoffnung auf eine Gesellschaftsordnung zerschmettern, die doch eigentlich einst als "Reich der Freiheit" (Friedrich Engels) skizziert worden war und für die sich selbst Genossen in den eigenen Reihen erwärmten. Oder sie konnten auf den Reformkurs einschwenken, würden damit dann aber absehbar den allerübergreifenden Führungsanspruch der Partei und damit ein zentrales, im Kalten Krieg für überlebenswichtig erachtetes marxistisch-leninistisches Prinzip aufgeben.

Genau diese Gefahr zeigte in den Augen der dogmatischen Genossen die Pläne der in Prager Reformsozialisten, die sie im Mai 1968 in einem Aktions-Programm vorstellten: Wirtschaftsreformen, Meinungsfreiheit, die Aufarbeitung stalinistischer Verbrechen und vor allem ein Überdenken der Rolle der Kommunistischen Partei der CSSR. Hoffte man in Ost-Berlin zunächst noch, das Problem aussitzen zu können, warnte das ZK intern schon bald vor "revisionistischen, ja offen bürgerliche Positionen".

Während sich im Frühjahr und Sommer 1968 in der CSSR eine im Ostblock so nie gekannte offene Diskussion vor laufenden Kameras und Aufnahmegeräten über die Abschaffung der Zensur, die Rehabilitation stalinistischer Opfer und über die Möglichkeit parlamentarischer Pluralität entspann, wuchs der Druck auf die tschechoslowakische Führung. In einem Reigen von Krisen- und Gipfeltreffen gaben sich die Staats und Parteichefs der Sowjetunion, Ungarns, Polens, Bulgariens und der DDR (die später so genannten "Warschauer Fünf") die Klinke in die Hand und bedrängten die Genossen aus Prag, die Reformen zurückzunehmen. Nicht mit dabei waren Albanien, das sich nach China orientierte sowie Rumänien, dessen Staats- und Parteichef Nicolae Ceausescu Moskaus Führungsanspruch damals ablehnte und zwischenzeitlich zu einem Darling im Westen avancierte.

Doktrin Nachdem beim letzten Treffen der "Warschauer Fünf" Anfang August der Eindruck entstanden war, dass man sich mit Dubceks Reformkurs wohl oder übel abfinden würde, kam der Einmarsch Warschauer Truppen in der CSSR am 21. August für die meisten Zeitgenossen überraschend. Rund 300.000 Soldaten aus der Sowjetunion, Polen, Ungarn und Bulgarien - nicht aber aus der DDR - brachten das Territorium und den Luftraum der CSSR innerhalb weniger Stunden unter Kontrolle. Dubcek und seine Genossen, die angesichts dieser Übermacht die Bevölkerung zur Gewaltlosigkeit aufgerufen hatten, wurden in sowjetischen Gewahrsam genommen. Die offizielle Meldung der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS berief sich auf ein Hilfeersuchen einer "Gruppe der tschechoslowakischen Führung", die nicht näher benannt wurde. Aber bereits im Brief der Warschauer Gipfelkonferenz an die Prager Genossen vom 15. Juli 1968 deutete sich jene Politik an, die später als "Breschnew-Doktrin" bezeichnet worden ist: "Es war und ist nicht unsere Absicht, uns in solche Angelegenheiten einzumischen, die ausgesprochen innere Angelegenheiten Ihrer Partei und Ihres Staates sind", hieß es darin. "Wir können jedoch nicht damit einverstanden sein, dass feindliche Kräfte Ihr Land vom Weg des Sozialismus stoßen und die Gefahr einer Lostrennung der Tschechoslowakei von der sozialistischen Gemeinschaft heraufbeschwören. Das sind nicht mehr nur Ihre Angelegenheiten." Der Blick in die Archive nach 1989 zeigt allerdings auch, dass der Namensgeber der Doktrin, KPdSU-Generalsekretär Leonid Breschnew, bis zuletzt alle Register zog, um eine politische Lösung zu erreichen und eine militärische Intervention zu vermeiden.

Für die Tschechen und Slowaken war der Einmarsch bitter: Zwar protestierten sie vor den Augen der Weltöffentlichkeit eindrücklich gegen die Intervention der Bruderstaaten und sie hatten die Sympathien und die Solidarität wohl der meisten Zeitgenossen dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs auf ihrer Seite. Doch wurde in den folgenden Wochen und Monaten immer deutlicher sichtbar, was es mit der nun eingeläuteten "Normalisierung" auf sich hat: Rücknahme fast aller Reformversprechen, Ruhe und Ordnung, Resignation und Stagnation, ein Exodus von Ärzten, Facharbeitern, Künstlern. An den Problemen und inneren Widersprüchen, deren Lösung Reformer wie Dubcek umgetrieben hatten, änderte der Einmarsch nichts. Die Panzer in Prag zeigten, dass selbst Reformversuche aus dem Apparaten heraus nicht möglich, das System zur Selbstkorrektur nicht in der Lage war - was mit Blick auf den Systemwettstreit zwischen Ost und West keine gute Nachricht sein konnte.

Auch die mit dem Prager Frühling verbundenen Hoffnungen und Ideen ließen sich nicht einfach wieder einfangen. 1977 machten vor allem Künstler und Intellektuelle um den Dramatiker Vaclav Havel mit der Charta 77 auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam, die im Widerspruch zu der auch von der CSSR-Führungen unterschriebenen Schlussakte von Helsinki standen. In Polen fanden ab 1980 oppositionelle Intellektuelle, Studenten und Arbeiter unter dem Dach der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc zusammen. Die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei konnte ihre Alleinherrschaft nur um den Preis der zwischenzeitlichen Verhängung des Kriegsrechts aufrechterhalten - und dies auch nur bis Anfang 1989, als sie sich letztlich gezwungen sah, mit der Solidarnosc das Gespräch am Runden Tisch zu suchen. Zu diesem Zeitpunkt focht die polnische Opposition schon nicht mehr für einen "Dritten Weg" oder die Reformierbarkeit des Sozialismus, sondern für freie Wahlen in einem Mehrparteiensystem. In der DDR hingegen kamen die Hoffnungen auf einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" in den 1980er Jahren nochmals auf, als sich in Moskau mit Michail Gorbatschow ein reformfreudiger Erster Sekretär anschickte, mit den Schlagworten von Transparenz und Umbau (Glasnost und Perestrojka) gegen den bleiernen Stillstand und eine verknöcherte Bürokratie vorzugehen. Dieses Mal war es die Führung der DDR, die nun ihrerseits mit Moskau haderte. SED-Chefideologe Kurt Hager tat Gorbatschows Reformkurs als Kulissenwechsel ab: "Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?"

Revolution der 40-Jährigen Aber als Gorbatschow im Oktober 1989 dann zum 40. DDR-Geburtstag in Ost-Berlin eintraf, wurde er von der Bevölkerung unter freudigsten "Gorbi"-Rufen begrüßt, die in den Ohren Hagers und seines Parteichefs Erich Honecker wohl besonders grell geklungen haben dürften. Die Hoffnung auf eine Wende zum demokratischen Sozialismus existieren auch bis in die Reihen der Opposition der DDR: Bürgerrechtler, die sich gegen Umweltverschmutzung oder gegen die NVA-Wehrpflicht wandten, trugen ihre Forderungen bis in den Herbst 1989 hinein in der Regel noch in der Annahme vor, die Dinge im Dialog mit der SED zum Besseren zu wenden. Der Historiker Stephan Wolle hat in seinem Buch "Der Traum von der Revolte" darauf hingewiesen, dass die Wende 89 verschiedentlich als Revolution der 40-Jährigen bezeichnet worden ist - deren reformsozialistischen Hoffnungen 1968 brutal zerschlagen worden waren, und die nun, mit 21 Jahren Verspätung, auf Einlösung alter Versprechen drängten. Allerdings verflog die reformsozialistische Experimentierlust im DDR-Wendeherbst bei den meisten Landsleuten rasch mit der Aussicht auf westlichen Wohlstand. Für Wolle "ohne Zweifel ein Sieg des Historischen Materialismus ganz im Sinne von Karl Marx, der die ökonomischen Interessen als Treibkraft der geschichtlichen Entwicklung gesehen hatte".

Die Invasion in Prag war für eine ganze Generation in den Ländern des Ostblocks zentraler politischer Wendepunkt, der die einen aus reformsozialistischen Träumen riss und die anderen zumindest noch bis 1989 weiter von der Möglichkeit systemimmanenter Reparaturen träumen ließ.