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EDITORIAL : Erbe und Aufgabe

08.01.2018
2023-08-30T12:33:47.7200Z
2 Min

Ein halbes Jahrhundert ist eine lange Zeitspanne im Leben der Menschen, eine lange Zeit auch für ein Land. Die DDR etwa war nach gut 40 Jahren am Ende, Bismarcks Kaiserreich nach 47, die Weimarer Republik brachte es auf 14 Jahre und die NS-Diktatur statt auf 1.000 auf mörderische zwölf. Das mag zur Erklärung beitragen, warum 1968, das nun 50 Jahre zurückliegt, vielen so fern scheint. Das Erbe der damaligen Protestbewegung aber ist ungebrochen aktuell. Das belegen nicht zuletzt jene, die es heute etwa aus einem autoritären oder extremistischen Weltbild heraus - gleich welcher Ideologie oder Religion - in Frage stellen.

Für sie wirkt "68" offenbar als Feindbild sogar akuter, als es anderen noch ausdrückliches Vorbild ist - eine Folge der Wirksamkeit, mit der der Aufbruch von damals das Land in den folgenden Jahrzehnten prägen sollte, im Guten und auch im Schlechten. Viele dieser Prägungen sind längst so selbstverständlich, als zählten sie zur DNA unserer offenen, pluralen Gesellschaft. Aber auch Selbstverständlichkeiten lassen sich in Frage stellen - auch das haben die Aufbegehrenden von damals vorgemacht.

Wenn der "Geist von 68" noch 50 Jahre danach wahlweise beschworen oder verdammt wird, geht der Streit darum im Kern um das Selbstverständnis und Lebensgefühl dieser Gesellschaft, deren Wertekonsens schon im Grundgesetz festgeschrieben ist: Werte wie die Würde jedes Menschen, wie die Gleichstellung der Geschlechter, wie die Glaubensfreiheit.

Sie wurden nicht erst 1968 erfunden, aber um ihre Durchsetzung musste auch damals gerungen werden. Dass etwa ein Polizeihauptmeister nach einem Einsatz gegen "Gammler" die Annahme einer Anzeige verweigert ("Anzeige gibt es nicht") mit der Begründung, "Das Grundgesetz ist heute außer Kraft", wie 1967 aus Hannover berichtet, scheint in unseren Tagen nicht vorstellbar. Die Werte unserer Verfassung zu schützen und die Verständigung darüber zu erhalten, ist gleichwohl nicht nur eine Phrase politischer Sonntagsreden, sondern auch Alltagsaufgabe.

Nicht zuletzt ist dabei auch das Parlament gefragt - schließlich gilt das Ringen um befriedende Antworten, im demokratischen Diskurs, als eine Stärke des Parlamentarismus. Dafür den Beweis zu erbringen, ist der Bundestag gerade in kontroversen Zeiten gefordert.