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Ortstermin: Geschichtsstunde am Platz der Republik : Des Bundestages berühmtester Balkon

23.07.2018
2023-08-30T12:34:31.7200Z
2 Min

"Dem Plan nach war dort ein Lesesaal, das heißt dort lagen Zeitungen aus", erzählt Historiker Michael F. Feldkamp über den Raum, aus dem Philipp Scheidemann (SPD) am 9. November 1918 herausgegangen sein muss, um - in einem nicht abgesprochen Akt - die Republik auszurufen. Neben dem Eingangsportal des Berliner Reichstages, im ersten Stock der zweite Balkon zur Spreeseite, das ist er, auf den Scheidemann mit seiner improvisierten Rede getreten, ja sogar auf die Balkonbrüstung geklettert sein muss. Von der linken Seite des Balkons aus in die Menge des heutigen Platzes der Republik rufend, bezeichnete er die Monarchie als "das Alte und Morsche" und rief mit den Worten "Es lebe das Neue! Es lebe die Deutsche Republik" ebendiese aus. Zwar gibt es verschiedene Versionen seiner Rede, doch eine Bronzetafel erinnert an das, womit Scheidemanns Name bis heute verknüpft wird: Die Entstehung des ersten demokratischen Staatswesens auf deutschem Boden.

Heute befindet sich an dieser Stelle nicht mehr der Lesesaal, sondern das Abgeordnetenrestaurant. Der geschichts- trächtige Ort wird gern besucht, erzählt Mario Nowak, gastronomischer Leiter des Restaurants: "Gäste dürfen hier nur in Begleitung von Mitgliedern des Bundestages herein. Manche Abgeordnete sprechen uns an, welcher der fünf Balkons es denn ist, andere wissen das schon und kommen extra dafür mit ihren Gästen oder kleinen Besuchergruppen vorbei", sagt er. "Das kommt nicht nur bei historisch interessierten Parlamentariern vor, sondern über alle Fraktionen hinweg", so der Restaurantleiter.

Das Abgeordnetenrestaurant mit seinen knapp 170 Plätzen wirkt zurückgenommen und ist schnörkellos gehalten. "Ein kleines, ehrenwertes Restaurant", nennt Nowak es mit einer frischen, hausmannskost-lastigen Speisekarte. Eine Mischung für alle Geschmäcker muss es sein, denn das Restaurant hat in Sitzungswochen so lang geöffnet, wie der Plenarsaal in Betrieb ist. "Mein persönlicher Rekord liegt bei 2.15 Uhr", erzählt Nowak, der seit acht Jahren beim Restaurant-Betreiber Käfer Berlin arbeitet.

Auch von außen erkennt man die Bronzetafel mit dem Reliefporträt Scheidemanns, die vom Bildhauer Heinz Spilker erschaffen wurde, an der Balkonbrüstung. Im Juni 1976 wurde sie auf Initiative der ersten Bundestagspräsidentin, Annemarie Renger (SPD), enthüllt, damals noch im Inneren des Gebäudes. Doch das war kein leichtes Unterfangen, fand Scheidemann-Experte Lothar Machtan in der noch unveröffentlichten Publikation "Zeitenwende ohne Beglaubigung" heraus: Bereits 1967 hatte die SPD-Fraktion beim damaligen Parlamentspräsidenten Eugen Gerstenmeier (CDU) das Anbringen einer Gedenktafel erwirken wollen. Doch der lehnte ab. Erst Renger setzte durch, dass Scheidemanns Leistung mit einem dauerhaften Kunstwerk sichtbar gedacht wurde. Nach dem Umbau des Bundestages wanderte die Tafel im Jahr 1999 sogar noch ein Stück näher an den Original-Schauplatz: direkt an die Balkonbrüstung. Lisa Brüßler