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UNGARN : Orbán am Pranger

Das Europäische Parlament fürchtet die Verletzung von EU-Werten und will ein Rechtsstaatsverfahren gegen das Donauland einleiten. Für mögliche Sanktionen gibt es…

17.09.2018
2023-08-30T12:34:34.7200Z
4 Min

Hallo Diktator!" So hat EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán schon vor ein paar Jahren einmal bei einem EU-Gipfel begrüßt. Einen rauen Ton aus Brüssel und Straßburg dürfte der von seinen Kritikern häufig als "rechtsnational" bezeichnete Politiker also gewöhnt sein. Doch nach Jahren des Dauerstreits über verletzte EU-Grundwerte in Ungarn ist jetzt eine neue Eskalationsstufe erreicht.

Das Europaparlament stimmte am Mittwoch mit Zwei-Drittel-Mehrheit für einen Bericht, in dem gegen Ungarn ein Rechtsstaatsverfahren gefordert wird. 448 EU-Abgeordnete votierten für die Einleitung des Verfahrens, 197 Parlamentarier waren dagegen und 48 enthielten sich. Damit brachten die Abgeordneten die schärfste Waffe in Stellung, über die die Europäische Union gegenüber Mitgliedstaaten verfügt.

Das sogenannte Artikel-7-Verfahren - im EU-Jargon auch "die Atombombe" genannt - kann im äußersten Fall zum Verlust von Stimmrechten im Ministerrat führen. Bislang wurde es erst einmal eingeleitet: im Dezember vergangenen Jahres gegen Polen. Nun muss sich der Rat der EU-Mitgliedsländer mit einem zweiten Fall befassen. Vor möglichen Strafmaßnahmen gegen Ungarn stehen allerdings hohe Hürden.

Der Ministerrat müsste in einem nächsten Schritt mit der Zustimmung von vier Fünfteln der Mitgliedsstaaten feststellen, dass die "eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung" der EU-Werte besteht. Nur wenn im Anschluss der Rat der EU-Staaten einstimmig beschließt, dass im Fall Ungarn tatsächlich eine solche Verletzung vorliegt, können mögliche Strafen durchgesetzt werden. Vor jedem Schritt muss aber das betroffene Mitgliedsland Gelegenheit bekommen, sich zu äußern. Im Fall Polen gab es bisher nur eine Anhörung.

Grünen-Bericht Basis für die Abstimmung der vergangenen Woche war ein Bericht der Grünen-Abgeordneten Judith Sargentini, den diese im Auftrag des Parlaments erstellt hatte. Sie kam darin zu dem Befund, dass es in Ungarn eine "systemische Bedrohung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte" gebe.

Unter Berufung auf Befunde der Vereinten Nationen, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und dem Europarat listete die Abgeordnete die Kritikpunkte an der Arbeit der Regierung in Budapest auf: Die Meinungsfreiheit in dem Land werde eingeschränkt, das Justiz- und Verfassungssystem geschwächt, Nicht-Regierungs-Organisationen werde die Arbeit absichtlich schwer gemacht, Minderheiten und Flüchtlinge würden in ihren Rechten verletzt. Daher sei ein Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn nötig.

Umstritten ist etwa Ungarns Umgang mit Flüchtlingen. Wegen einer restriktiven Asylpolitik laufen gegen das Land bereits mehrere Vertragsverletzungsverfahren der EU - unter anderem weil die Regierung sich weigert, Flüchtlinge aus Italien und Griechenland zu übernehmen. Orbáns Regierung hat außerdem einen Zaun an seinen Grenzen zu Serbien und Kroatien errichten lassen, um "illegale Migranten" zu stoppen. Allerdings ist die Politik, die sogenannte Balkanroute undurchlässiger zu machen, durch EU-Beschlüsse gedeckt, denen zum Beispiel auch die auch die deutsche Regierung zugestimmt hat.

Zuletzt wirkte es fast, als lege Orbán es darauf an, dass das Strafverfahren kommt. Statt zu beschwichtigen oder Zugeständnisse zu machen, überzog er die Parlamentarier und den Bericht noch kurz vor der Abstimmung mit beißender Kritik. Der Text beleidige die Ehre Ungarns, er strotze vor Fehlern und sei darauf aus, das ungarische Volk zu verurteilen, weil es nicht in einem Einwanderungsland leben wolle, sagte er bei einem Auftritt vor den Abgeordneten am vergangenen Dienstag.

Ungarns Außenminister Peter Szijjarto blies unmittelbar nach der Abstimmung in dasselbe Horn: "Dies ist nichts anderes als die kleinliche Rache migrationsfreundlicher Politiker", sagte er in Budapest. "Ungarn und seine Menschen hat man bestraft, weil sie bewiesen haben, dass die Migration kein naturgegebener Vorgang ist und dass man sie aufhalten kann."

Besonders die christdemokratische Europäische Volkspartei (EVP) steckt wegen Orbán in der Klemme: Der Fraktion gehört im EU-Parlament neben CDU und CSU auch Orbáns Regierungspartei Fidesz an. Die Partei bringt mit ihrer extrem zuwanderungskritischen Haltung den wohl größten Konflikt Europas mit in die Fraktion: Wie umgehen mit Migration?

Von vielen Seiten wurde die EVP zuletzt gedrängt, sich von den ungarischen Parteifreunden zu distanzieren. Nun hat eine Mehrheit der EVP-Abgeordneten für das Strafverfahren gestimmt, darunter Fraktionschef Manfred Weber (CSU) - dessen Votum allerdings die Mehrheit der bayerischen Christsozialen im EP nicht folgen wollte.

"Orbán hätte einen kleinen Schritt machen müssen", sagte der langjährige CDU-Europaparlamentarier Elmar Brok dem Sender "Phoenix". "Das ist eine wichtige Botschaft für ihn, dass seine eigenen Truppen nicht mehr mitmachen." Der Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament, Daniel Caspary, äußerte die Hoffnung, dass sich jetzt etwas tut in dem Donauland. "Bisher hat die ungarische Regierung bei Bedenken der EU-Kommission, was die Vereinbarkeit nationaler Gesetze mit EU-Standards angeht, immer Anpassungen vorgenommen", betonte er.

Getrennte Wege Ist die Sache damit vorerst erledigt? Oder droht nun der Rauswurf aus der Fraktion? Zunächst deutete wenig darauf hin, dass die EVP diesen Weg gehen will. Orbán selbst hatte noch am Dienstag betont, dass er auf jeden Fall bei der EVP bleiben, sie aber in Sachen AsyZ zZ lpolitik mehr auf seine Linie einschwören will, am vergangenen Donnerstag dann taxierte er die Wahrscheinlichkeit eines Ausscheiden von Fidesz aus der konservativen europäischen Parteienfamilie dann aber immerhin schon auf 50 Prozent.

Seine Regierung machte zudem deutlich, sich juristisch gegen das Strafverfahren zu wehren, etwa durch eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof. Sie stellt sich dabei auf den Standpunkt, dass bei der Berechnung der Abstimmung im EP auch die Enthaltungen als abgegebene Stimmen bewertet werden müssen. Unter diesen Umständen wären 462 Stimmen statt der 448 "Ja"-Stimmen für eine Zwei-Drittel-Mehrheit notwendig gewesen.