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REGierungsbefragung : Merkel-Stunde

Zum dritten Mal stand die Kanzlerin den Abgeordneten Rede und Antwort

15.04.2019
2023-08-30T12:36:20.7200Z
4 Min

Rund 20 Sekunden überzieht Claudia Moll bei der "Befragung der Bundesregierung" im Bundestag ihre Redezeit für die erste Frage: Fast 30 Jahre habe sie in der Pflege gearbeitet, "und zwar sehr gerne", berichtet die SPD-Abgeordnete, um dann für Tariflöhne für Pflegekräfte und eine Begrenzung des Eigenanteils bei den Kosten zu werben - bis Parlamentspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) sie an die Zeit erinnert und der im Wortsinn Rede und Antwort stehenden Bundeskanzlerin das Wort erteilen will. "Nein", protestiert Moll, die seit 2017 als direkt gewählte Abgeordnete des Wahlkreises Aachen II dem Bundestag angehört, "ich habe doch noch gar nicht gefragt!"

Der Einwand bleibt wirkungslos; die Zeit für ihre Frage sei "jetzt deutlich abgelaufen", befindet Schäuble. Doch Angela Merkel kann der gelernten Altenpflegerin "zu Hilfe eilen": "Ich vermute, ich habe Ihre Frage erahnt", hebt die Kanzlerin an, referiert dann über die Schwierigkeiten von Tarifverträgen im Pflegebereich und zeigt sich mit Blick auf den SPD-Vorschlag zur Deckelung des Eigenanteils "wie immer gerne bereit, darüber in der Koalition zu diskutieren".

Starres Korsett Die Szene ist nicht untypisch für die Befragung der Bundeskanzlerin, der sich Merkel vergangene Woche bereits zum dritten Mal stellte, als erste deutsche Regierungschefin überhaupt. Die Regeln sind streng, nach Ansicht mancher Kritiker zu streng, um einen lebendigen Austausch zwischen Kanzlerin und Abgeordneten zu ermöglichen. Für jede Frage und Antwort gibt es maximal je eine Minute, für Nachfragen plus Beantwortung jeweils 30 Sekunden. Ein starres Zeitkorsett, das es Merkel gleichwohl erlaubt, sowohl ihre menschliche Seite als auch Sachkenntnis zu präsentieren.

Zweimal hatte der Bundestag das neue Format bislang durchexerziert; die früher halbstündige "Befragung der Bundesregierung", bei der ein Regierungsvertreter in Sitzungswochen des Parlaments zu Beginn der Plenarberatungen über die vorherige Kabinettssitzung berichtete, galt als langweilig, ja "überflüssig" - im Gegensatz etwa zur "Prime Ministers Questions", bei der sich britische Regierungschefs im Unterhaus den Parlamentariern stellen. Erst in dieser Wahlperiode verständigte sich die Koalition darauf, dass auch die Bundeskanzlerin selbst dreimal im Jahr jeweils eine Stunde lang im Bundestag die Fragen der Abgeordneten beantworten soll: "In den letzten Sitzungswochen vor Ostern, vor der Sommerpause und vor Weihnachten", so steht es nun in Anlage 7 der Geschäftsordnung des Parlaments.

War die Spannung bei der Premiere im vergangenen Sommer noch groß, weiß das Publikum mittlerweile, dass Merkel das neue Format sehr wohl für sich zu nutzen weiß. Nun ist der Bundestag schon rein räumlich nicht das britische Unterhaus, und auch ansonsten wirkt die Befragung der Bundeskanzlerin wie schon im Juni und Dezember vergangenen Jahres alles andere als spektakulär. Ihre Wirkung bezieht die Veranstaltung daraus, dass sich eben die Regierungschefin selbst den Fragen des Parlaments stellt - einschließlich der damit verbundenen Unwägbarkeiten. Auch im dritten Durchgang bleibt der Nachrichtenwert der Befragung überschaubar, und doch kann sie auch als Lehrstunde in Politik begriffen werden.

21 Fragen Das fängt mit der Vielfalt und Komplexität der angesprochenen Themen an, gilt aber auch insoweit, dass der Zuschauer die Kanzlerin bei dem Frage-und-Antwort-Spiel etwas anders erleben kann als bei einer Regierungserklärung oder einem Pressestatement. 21 Fragen werden diesmal gestellt, zumeist jeweils mit einer Nachfrage; ein-, zweimal entwickelt sich fast ein kleiner Dialog. Merkel widmet ihr Eingangsstatement dem anschließenden EU-Gipfel zum Brexit, dann bestimmen die Abgeordneten die Themen: Urheberrechtsrichtlinie und Uploadfilter, europäischer Mindestlohn, Klimaschutz, Brexit und Sicherheitspolitik, "Mietenwahnsinn", wieder Klimaschutz, Mieten und Enteignung, Pflege, die "Doppelverbeitragung von Betriebsrenten und Direktversicherungen", Brexit-Zeitplan, Rüstungsexport, Industriestrategie, Grenzsicherung, Paketbranche, nochmals Uploadfilter, China, Bankenpolitik, der Paragraf 219a, Qualifikation ausländischer Ärzte, die Grundsteuer-Reform und erneut die Industriestrategie - selten wird Politik so breit und komprimiert zugleich präsentiert, mit Themen, die zumeist auch im Land für heftige Diskussionen sorgen, deren Fülle indes auch verwirren und überfordern kann.

Konzentriert und ruhig Auch bei dieser dritten Befragung der Kanzlerin antwortet Merkel ruhig und konzentriert, zeigt Detailkenntnis, Routine, manchmal eine Ahnung von Spontanität, und lässt sich auch durch provokative Fragen nicht aus der Spur bringen. Da erkundigt sich ein AfD-Parlamentarier, ob sie "diesmal ihrer Pflicht zum Grenzschutz, wenn nötig, nachkommen" würde, und ein FDP-Mann, ob sie die Sorgen des Mittelstands nicht ernst nehme; ein Grüner wirft ihr ein "desaströses Ergebnis" ihrer Klimaschutzpolitik vor, eine Linken-Abgeordnete Tatenlosigkeit angesichts explodierender Mieten.

Die Kanzlerin verweist auf "Maßnahmenbündel" beim Wohnungsbau und lehnt Enteignungen als "falschen Weg" ab, spricht von "gezieltem" Handeln beim Klimaschutz, vom Mittelstand als dem "Rückgrat unserer Wirtschaft" und vom Grenzschutz, der "im Wesentlichen an der Außengrenze stattzufinden hat". Als ein AfD-Abgeordneter von einem "Kuhhandel" mit Frankreich redet, weist Merkel die Wortwahl ebenso zurück wie bei einem Linken, der die Deutsche und die Commerzbank mit "zwei kranken Truthähnen" vergleicht, die "keinen Adler" ergäben. Einmal, beim Wort "Baukindergeld", verhaspelt sie sich.

Manchmal ergeben sich auch Einblicke in Merkels Politik- und Amtsverständnis: "Politik", sagt sie etwa, "besteht darin, immer wieder auf Probleme, die auftreten, zu reagieren". Und dass sie als Kanzlerin dafür verantwortlich sei, "dass geprüft wird, ob das, was wir uns wünschen, machbar ist und in den Haushalt passt, und dass jedes Projekt hinsichtlich der Wichtigkeit mit anderen Projekten abgewogen wird".

Ende Juni kommt der Bundestag zur letzten Sitzungswoche vor der Sommerpause zusammen. Dann steht die nächste Kanzlerinnen-Befragung an.