Piwik Webtracking Image

Brexit : Der Ton wird rauer

Die Europawahl in Großbritannien wird zum Stimmungstest in Sachen EU-Ausstieg

20.05.2019
2023-08-30T12:36:22.7200Z
4 Min

Ein lauer Mai-Abend, die Gäste im Pub "George VI." genießen ein Glas kalten Weißwein, manche haben sich mit ihrem Getränk in den Innenhof gesetzt. Im Hintergrund ein entspanntes Säuseln aus Gesprächen, klirrenden Bierkrügen und leiser Musik. Die Atmosphäre im angrenzenden Veranstaltungssaal allerdings ist aufgeheizt. Auf der Bühne sitzen sechs Kandidaten, die am 23. Mai bei der Europawahl in Großbritannien für ihre Partei antreten und um die acht Mandate kämpfen, die in London zu vergeben sind.

Eine Wahl, die es eigentlich gar nicht hätte geben sollen. Großbritannien sollte am vergangenen 29. März aus der Europäischen Union austreten und damit nicht mehr an der Abstimmung teilnehmen. Doch weil das Unterhaus seit Monaten den von Premierministerin Theresa May Ende November 2018 mit Brüssel ausgehandelten Vertrag ablehnt, müssen unter den 751 EU-Abgeordneten weiterhin 73 Briten sitzen. Am Freitag scheiterten nun auch die überparteilichen Gespräche über einen Ausweg aus Brexit-Streit - eine Einigung dürfte sich damit weiter hinziehen.

Für Millionen Bürger im Vereinten Königreich geht es am 23. Mai nur sehr wenig um die Mandate für Straßburg. Die Abstimmung gilt als Test, wo das Land fast drei Jahre nach dem Ausstiegsvotum steht. Hat sich die Stimmung angesichts der feststeckenden Verhandlungen und der offensichtlichen Schwierigkeiten, die ein Abschied von Brüssel bedeutet, Richtung Bleiben gewandelt? Oder wiegt die Tatsache schwerer, dass die Arbeitslosigkeit historisch niedrig ist und sich die Löhne erstmals seit der Finanzkrise 2008 erholen, von einer "Brexit-Krise" im Portemonnaie der Bürger mithin nichts zu spüren ist?

Glaubt man den Umfragen über den Ausgang der Europawahl, ist Letzteres der Fall. Ihnen zufolge wird Anti-EU-Ikone Nigel Farage mit seiner Brexit Party am Donnerstag klar gewinnen. Auf 34 Prozent der Stimmen soll sie laut jüngsten Ergebnissen des Meinungsforschungsinstituts ComRes kommen. Mit klarem Abstand auf dem zweiten Platz liegt die Labour-Partei (21 Prozent). Den regierenden Konservativen steht eine schmerzhafte Abstrafung bevor, sie kommen nur knapp auf einen zweistelligen Wert - eventuell die niedrigste Zustimmung in einer nationalen Wahl seit 1834.

Mays Partei könnte damit sogar hinter die Liberaldemokraten rutschen. Deren erwarteter Erfolg gilt den Pro-Europäern zugleich als Beweis, dass sich die Stimmung im Land gegen den Brexit wendet. Denn die "LibDems" haben sich von jeher für den Verbleib in der EU ausgesprochen und schon bald nach dem Referendum im Juni 2016 die Forderung nach einer zweiten Abstimmung zum Wahlprogramm gemacht.

Zu den Pro-Europäern gesellen sich zwei weitere Parteien, die dezidiert nicht aus dem europäischen Klub austreten wollen und ein neuerliches Votum fordern: die britischen Grünen und die neue Partei Change UK. Diese hat sich gebildet aus acht Labour-Parlamentariern und drei Tory-Abgeordneten, die im vergangenen Februar aus ihren Parteien ausgetreten waren und zunächst unabhängig im Unterhaus saßen. Grund für den Abschied von den politischen Freunden war für sie die Linie ihrer jeweiligen Parteiführung in Sachen Brexit. Im Fall der Labour-Leute kamen die anhalten antisemitischen Vorfälle in den eigenen Reihen dazu.

In keinem Punkt einig Zurück im Veranstaltungssaal im Pub "George IV". Auch ein Vertreter von Change UK ist dabei. Jan Rostowski war sieben Jahre lang polnischer Finanzminister. Er ist in London geboren und hat beide Staatsangehörigkeiten. Jetzt tritt er für Change UK an, "weil der Brexit zum Scheitern verurteilt ist". Auf dem Podium sitzt er gleich neben Ben Habib, dem Spitzenkandidaten der Brexit Party für London. Es geht nicht nur deshalb robust zu, weil die beiden sich in keinem einzigen Punkt einigen können. Sondern auch, weil im Publikum aufgebrachte Anhänger von "Remain" und "Leave" sitzen. Wie wütend sie sind, zeigt sich sehr schnell. Der Moderator hat schon nach wenigen Minuten alle Mühe, die Lautstärke im Saal unter Kontrolle zu halten. Etwa als der konservative EU-Abgeordnete Charles Tannock erklärt, dass er nun einen irischen Pass beantragt habe, den er dank seiner irischen Ehefrau bekommen kann. "Du Verräter! Schande über dich!", schreit ein Brexit-Anhänger in der dritten Reihe und springt mit hochrotem Kopf auf. Als wiederum der Brexit-Party-Kandidat Habib über die wirtschaftlichen Chancen durch den EU-Ausstieg spricht, brüllt ein Pro-EU-Fan: "Du hast dich doch als Immobilieninvestor am Brexit reich gemacht!" Für einen ausländischen Beobachter, an die höfliche und respektvolle Art der Briten in der öffentlichen Debatte gewöhnt, ist die Grobheit und Aggression der Auseinandersetzung geradezu ein Schock. Auch mit Blick auf die Debatten über das britische Wahlrecht ist die EU-Abstimmung am 23. Mai ein Gradmesser. Anders als bei nationalen Urnengängen mit Mehrheitswahlrecht gilt hier das Verhältniswahlrecht. Weshalb Brexit-Ikone Farage anders als bei Parlamentswahl - bei denen er oder seine Ex-Partei Ukip in Jahrzehnten nur ein einziges Mandat erringen konnte - der Sieg bereits als sicher gilt.

Die Brexit-Gegner schauen hingegen auf die Zahl, welche die drei explizit pro-europäischen Parteien auf sich vereinen können. Da sieht es in den zwölf Wahlregionen im Vereinten Königreich sehr unterschiedlich aus - aber auch nicht sehr viel anders als beim EU-Referendum vor drei Jahren. In London, Schottland und im englischen Südosten prognostizieren die Demoskopen einen klaren Sieg für die "Remain"-Parteien. Im Rest Englands hingegen ist die Brexit Party klarer Sieger. In Wales wiederum wird Labour den Prognosen nach gewinnen.

Die Position der Parteiführung von Labour zum Brexit ist schwammig. Jeremy Corbyn hat sich im Gegensatz zu den Labour-Abgeordneten und den Mitgliedern immer noch nicht eindeutig positioniert, ob er ein zweites Referendum will. So werden viele Labour-Wähler bei der Europawahl wohl einer der drei anderen Parteien mit klarer Anti-Brexit-Position ihre Stimme geben. Die EU-Wahl wird so auch belegen, wie gespalten die Nation ist.

Die Autorin ist Korrespondentin der "Welt" in London.