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soziale GrundRechte : Die Angst, zu viel zu versprechen

Die Verfassung kennt nur wenige soziale Rechte, dafür aber das Sozialstaatsprinzip

15.07.2019
2023-08-30T12:36:25.7200Z
3 Min

Gäbe es im Grundgesetz ein Recht auf Versorgung mit angemessenem Wohnraum, hätte der Staat ein Problem. Denn Wohnungen sind vielerorts ein knappes und teures Gut und zwingen nicht wenige Menschen entweder zum Umzug oder zum Bleiben in beengten Verhältnissen. Dagegen ließe sich klagen, wenn dieses Recht existierte. Ebenso verhält es sich mit dem Recht auf Arbeit, die den Lebensunterhalt sichert. Über eine Millionen Menschen, deren Lohn nicht ausreicht, um die Existenz zu sichern und die deshalb mit Arbeitslosengeld II "aufstocken", könnten die Gerichte ebenfalls beschäftigen.

Doch das Grundgesetz enthält nur wenige soziale Grundrechte und unterscheidet sich damit von der Weimarer Reichsverfassung und den DDR-Verfassungen deutlich: Die Weimarer Verfassung sah in bisher ungekannter Weise soziale Rechte vor, wie etwa die ausgleichende Fürsorge für kinderreiche Familien, das Recht auf eine unterhaltssichernde Arbeit und auf eine Wohnung: Der Staat habe das Ziel, jedem Deutschen eine "gesunde Wohnung" zu sichern, schrieben die Verfasser 1919 unter dem Eindruck der Wohnungsmisere. In der Verfassung der DDR von 1974 wurde jedem Bürger ein Recht auf Arbeit, Wohnung, Bildung, auf Fürsorge im Alter und bei Invalidität zugestanden. Beide Verfassungen formulierten aber zugleich auch eine Pflicht zur Arbeit.

Das einfache Recht Auch die Bundesrepublik kennt natürlich soziale Rechte. Diese sind jedoch vor allem auf der Ebene des einfachen Rechts dargelegt, etwa im Arbeitsrecht mit Regelungen zum Kündigungsschutz und Urlaub. Ansprüche auf Sozialleistungen sind in den zahlreichen Sozialgesetzbüchern geregelt. Doch das reicht Kritikern nicht, die verlangen, dass soziale Rechte auf die Ebene des Verfassungsrechts gehoben werden sollen. Nur dadurch könne sichergestellt werden, dass diese Rechte nicht durch einfache Gesetze ausgehöhlt werden, so die Argumentation. Die Verfechter des Status quo dagegen betonen, in einer sozialen Marktwirtschaft gebe die Verfassung der Wirtschaft lediglich einen Ordnungsrahmen vor, das Recht auf Arbeit laufe jedoch auf einen staatlichen Zentralismus, also auf eine Art Planwirtschaft hinaus. Außerdem befürchten sie, dass mit der Aufnahme sozialer Grundrechte in die Verfassung ein Lebensstandard festgeschrieben wird, der sich unter veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen nicht halten lässt.

Zuerst die Demokratie sichern Genau dies war übrigens eine Erfahrung mit der Weimarer Verfassung. Denn deren Grundrechte blieben weitgehend folgenlos, weil sie angesichts der wirtschaftlichen Misere nicht eingelöst werden konnten. Auch einklagbar waren sie nicht, denn es handelte sich letztlich "nur" um programmatische Zielbestimmungen. Zu den wenigen großen Reformen, mit denen der sozialgestalterische Anspruch der Verfassung durchgesetzt werden sollte, gehörte die Einführung einer Arbeitslosenversicherung. An der Wohnungsnot hatte sich indes durch die Verfassung nichts geändert.

Als sich 1948 die Verfasser des Grundgesetzes an die Arbeit machten, nahmen sie nur wenige soziale Grundrechte in die Verfassung auf. Zum einen lag nach der Katastrophe von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg der Fokus vor allem auf der Etablierung demokratiesichernder Elemente und weniger auf sozialen Belangen. Zum anderen sollte verhindert werden, dass mit einer zu starken Konkretisierung sozialer Rechte, die dann eventuell doch nicht umgesetzt werden können, das Grundgesetz zu einer Verfassung der leeren Versprechen wird und somit deren Akzeptanz untergraben wird. Außerdem war es zunächst nur als Provisorium konstruiert.

Auch wenn das Grundgesetz nur wenige soziale Grundrechte formuliert, bekennt sich Artikel 20 gleichzeitig zum Sozialstaatsprinzip. Es verpflichtet den Gesetzgeber, die Rechtsprechung und die Verwaltung dazu, nach sozialen Gesichtspunkten zu handeln und die Rechtsordnung entsprechend auszulegen. Das Sozialstaatsprinzip fungiert also als eine Art Überbegriff für einzelne soziale Rechte.

Dennoch fordern auch mehrere Grundrechtsartikel vom Staat soziales Handeln: So folgt aus Artikel 1 (Würde des Menschen), dass der Staat seinen Bürgern ein materielles Existenzminimum sichern muss. Artikel 3 (Gleichberechtigung von Mann und Frau, Diskriminierungsverbot) verpflichtet dazu, soziale Ungleichheiten am Arbeitsplatz zu beseitigen. Artikel 6 (Schutz von Ehe und Familie) verlangt eine Entlastung von Familien und Absicherung von Müttern.