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70 Jahre Volksrepublik : American Dream in China

Mit dem rasanten Aufstieg des Landes verändert sich die Weltordnung

12.08.2019
2023-08-30T12:36:26.7200Z
5 Min

Der rebellische Donald Trump, der eigensinnige Putin, die zerstrittenen Europäer oder die Krise der Volksparteien: All das sind Unterströmungen eines globalen Epochenwandels, bei dem die Chinesen stoisch Regie führen.

China ist innerhalb weniger Jahrzehnte von einem der ärmsten Länder der Welt zur größten Handelsnation und kaufkraftbereinigt zur stärksten Volkswirtschaft aufgestiegen. Das ist einmalig in der Weltgeschichte. Und dennoch erfasst das nicht die volle Dimension des Wandels. Es geht um mehr: Der Westen kann die globalen Spielregeln nicht mehr allein bestimmen, obwohl das jahrhundertelang selbstverständlich war. Im 17., 18. und 19. Jahrhundert hielten die Europäer die Zügel in der Hand. Im 20. Jahrhundert die Amerikaner. Nun jedoch verschiebt sich der globale Machtschwerpunkt offensichtlich dauerhaft in Richtung Asien, mit China als Zentrum. Der "American Dream" wird chinesisch.

Seitdem die Mongolen 1241 in Europa waren, hat kein asiatisches und auch kein anderes nichtwestliches Land einen so großen wirtschaftlichen und geopolitischen Einfluss gehabt. Das Mongolenreich zerfiel rasch wieder. China wurde Großmacht, allerdings ohne globale Ambitionen. "Die Reise in den Westen" heißt eines der bekanntesten chinesischen Volksepen - nicht etwa "Den Westen bekehren" oder gar "Kampf gegen den Westen". Die Reise des Mönches Xuanzang, auf der das Epos basiert, war kein Kreuzzug, sondern die Bildungsreise eines Vertreters einer starken und innovativen Nation.

Aus der Stärke wurde jedoch Überheblichkeit. Die chinesischen Kaiser konnten sich nicht vorstellen, dass außerhalb von China etwas Sinnvolles erfunden werden könnte. Die Chinesen verpassten die industrielle Revolution. Die Wirtschaft brach ein und China wäre an dieser Krise im 19. und 20. Jahrhundert fast zerbrochen. Mao Zedong hat das Land unter großen Opfern im letzten Moment geeint. Der Reformer Deng Xiaoping hat es geöffnet.

Streben Nun jedoch genügt China nicht länger sich selbst. Der chinesische Präsident Xi Jinping geht den nächsten Schritt. Auch er will niemanden bekehren, strebt jedoch nach einem dauerhaften, weltumspannenden Einfluss. Dass China nicht mehr "nur" die Fabrik der Welt ist, sondern inzwischen auch ein Innovationszentrum mit neuen, dynamischen Silicon Valleys wie beispielsweise der südchinesischen Stadt Shenzhen, gibt dem Staats- und Parteichef Rückenwind.

Das lange bestimmende Machtgleichgewicht zwischen dem Westen und China verschwindet. Inzwischen verfügt nicht mehr ausschließlich der Westen über die beste Technologie, während China den größten Wachstumsmarkt der Welt kontrolliert. Die tief sitzende Angst, noch einmal eine industrielle Revolution zu verpassen, hat die chinesische Politik dazu gebracht, Innovationen unter fast allen Umständen zu fördern. Das ist erstaunlich gut gelungen - in dem Maße, dass die Chinesen nicht nur bei Elektroautos oder Hochgeschwindigkeitszügen nun die Technologie und den Wachstumsmarkt besitzen, sondern dass auch ihr globaler politischer Einfluss dramatisch zunimmt.

Dabei darf man eines nicht vergessen: China hat heute noch ein Pro-Kopf-Einkommen auf dem Niveau von Bulgarien. Was wir derzeit sehen, sind gewissermaßen erst die Lockerungsübungen eines erwachenden Riesen, der mit fortschreitender Digitalisierung und künstlicher Intelligenz erst richtig Fahrt aufnehmen dürfte.

Xi ist also durchaus nicht größenwahnsinnig, wenn er als der "Kaiser" in die Annalen eingehen möchte, der es als erster Herrscher in der 3.500-jährigen Geschichte des Landes wagt, aus China ein Land zu machen, dass die Weltordnung entscheidend mitbestimmt. Das sind die neuen Dimensionen, in denen die chinesische Führung 70 Jahre nach Gründung der Volksrepublik denkt. Wir im Westen fahren derweil auf Sicht.

Geleitzug Präsident Xi ist mit seiner Strategie der "Eroberung" anderer Länder ohne militärische Mittel in einem kurzen Zeitraum erstaunlich weit gekommen. Ein asiatischer Nachbar nach dem anderen reiht sich in den Geleitzug von Chinas Aufstieg ein, auch wenn hier und da ein Murren zu hören ist. China hat sich in Afrika, wenn auch nicht ohne Widersprüche und Fehler, viele neue Freunde geschaffen. Die USA spielen in Asien und Afrika eine immer geringere Rolle. Die Europäer haben sich von der Weltpolitik weitgehend verabschiedet und sind mit sich selbst beschäftigt. China sorgt zudem inzwischen mit bilateralen Verträgen und monetärem Einfluss geschickt dafür, dass es für Europa kaum mehr möglich ist, mit einer Stimme zu sprechen, wenn es um eine Strategie gegenüber China geht. Zuletzt hat sich Italien für chinesische Milliardeninvestitionen entschieden - Brüssel war alles andere als begeistert. Es rächt sich nun für die Europäer, dass sie den Aufstieg Chinas über Jahrzehnte hinweg vollkommen unterschätzt haben.

Der Rivale Donald Trump ist für Präsident Xi ein Ärgernis und Segen zugleich. Ein Ärgernis, weil die Weltpolitik unberechenbar wird und weil der US-Präsident unverhohlen versucht, die wirtschaftliche Aufholjagd Chinas zu bremsen. Das, und nicht die bisher nicht belegten Sicherheitsbedenken, ist der entscheidende Grund, warum die USA Huawei, den größten Telekommunikationsnetzwerkausrüster der Welt, mit allerlei Sanktionen belegt haben und die Tochter des Firmengründers in Kanada auf Druck der US-Ermittlungsbehörden verhaftet wurde, wo sie seit Monaten unter Hausarrest steht. Dass sich mit Ausnahme Australiens und Neuseelands niemand diesem Kreuzzug anschließen mag, ist bezeichnend für den schleichenden Machtverlust der USA.

Ein Segen ist Trump aus Pekinger Sicht, weil er China zusammenschweißt und weil er die Chinesen zwingt, noch schneller technologisch von den USA unabhängig zu werden. Chinas Macht ist bereits groß: Wer ist mächtiger als die deutsche Autoindustrie? Wer hat den längeren Atem gegenüber den Zumutungen von Donald Trump? Wer ist erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg in der Lage, ohne den Westen neue globale Institutionen durchzusetzen? Wer ist der größte Gläubiger der Amerikaner? Die Antwort lautet stets: China.

Wenn man Mitbestimmung global zu Ende denkt, kann dabei nur eines herauskommen: One man, one vote - so wie es unseren westlichen Wertvorstellungen entspricht. Gemessen an unseren eigenen Standards können wir es uns nicht mehr leisten, auf globaler Ebene eine Ausnahme zu machen und als eine Minderheit einer Menschheitsmehrheit unsere Vorstellung der Weltordnung aufzuzwingen. China fordert nichts weniger als das Jahrhundert der globalen Gleichheit.

Immer mehr aufsteigende Länder in Asien, Südamerika und Afrika treten dieser chinesischen Initiative gerne bei. Dass China global mehr Mitbestimmung einfordert, selbst aber keine Demokratie ist, spielt für diese Länder kaum eine Rolle, oft auch dann nicht, wenn sie selbst demokratisch verfasst sind. China hat die Macht, seine Vorstellungen durchzusetzen, die sich oft mit denen anderer Aufsteiger decken. Vorwürfe aus dem Westen wie den Mangel an Demokratie spielt Peking routiniert zurück: Die Protagonisten der Französischen Revolution seien auch nicht demokratisch legitimiert gewesen.

Spielräume Die westlichen Kolonialmächte haben einst Chinas gottgesandten Herrscher vertrieben. In der westlichen Welt wurden der Adel entmachtet, Demokratien etabliert, Sklaverei und Rassentrennung überwunden, die Gleichheit von Männern und Frauen proklamiert. So wie im 19. Jahrhundert der Adel in den europäischen Nationalstaaten als mächtige Minderheit keine Chance hatte, seine absolute Macht gegen den Willen des Volkes zu erhalten, so werden auch die Möglichkeiten des Westens auf globaler Ebene immer kleiner, als Minderheit der Mehrheit die Regeln zu diktieren.

Je früher wir uns darauf einstellen, desto mehr Spielraum haben wir, unsere Vorstellungen in diese neue Weltordnung einzubringen. Viel Zeit bleibt allerdings nicht mehr. Das Jahrhundert der globalen Gleichheit hat längst begonnen. Es entwickelt sich weiter, und wenn es sein muss, auch ohne uns.

Der Autor ist Journalist und Autor (zuletzt "Zukunft? China!") und berichtet seit 25 Jahren aus Peking.