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POLEN : Am Ziel der Träume

Vor der Wahl am 13. Oktober kann die Opposition keine Wechselstimmung erzeugen

30.09.2019
2023-08-30T12:36:27.7200Z
4 Min

Jaroslaw Kaczynski möchte Polen "von Grund auf verändern". Das sagt der Vorsitzende der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) seit Langem. Es ist sein politischer Traum. Das Land, das dem 70-Jährigen vorschwebt, soll auf dem Fundament einer starken Nation ruhen und den "Werten des Polentums" verpflichtet sein. Dazu zählt Kaczynski vor allem die klassische Familie, die "aus Mann, Frau und ihren Kindern besteht", sowie den katholischen Glauben: "Ein guter Pole muss wissen, welche Rolle die Kirche spielt. Jenseits davon gibt es nur Nihilismus." Und über all dem wacht eine mächtige, vom Volkswillen getragene Regierung, die den Menschen äußere, innere und soziale Sicherheit garantiert.

Der Verwirklichung seines Traums war Kaczynski noch nie so nah wie in diesem Herbst 2019. Die PiS regiert zwar bereits seit vier Jahren und stellt mit Andrzej Duda den Präsidenten. Aber um Kaczynskis "wahres Ziel" zu erreichen, von dem er spricht, um gegen allen Widerstand ein fundamental neues Polen zu schaffen, haben Zeit und Machtfülle bislang nicht ausgereicht. Das jedoch könnte sich bald ändern. Denn wenn die Bürgerinnen und Bürger am 13. Oktober den Sejm und den Senat neu wählen, dann hat die PiS allen Umfragen zufolge beste Chancen, ihre absoluten Mehrheiten in beiden Parlamentskammern auszubauen.

Selbst eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit für die PiS scheint möglich, denn das gemischte Wahlsystem bevorzugt die großen Parteien. So eroberte die PiS vor vier Jahren mit 37,6 Prozent der Stimmen 235 von 460 Mandaten im Sejm und 61 von hundert Senatssitzen. Diesmal aber sagen die Demoskopen der Partei bis zu 48 Prozent Stimmenanteil voraus. In diesem Fall, so wird in Warschau spekuliert, könnte der "Strippenzieher" Kaczynski, der bislang kein Regierungsamt innehat, aus den Kulissen der Macht ins Rampenlicht treten und selbst Ministerpräsident werden.

Käme es so, würde für Grzegorz Schetyna ein Albtraum wahr. Der Chef der gemäßigt-konservativen Bürgerplattform ist überzeugt, dass Kaczynski in Polen ein "östliches Herrschaftsmodell" installieren will, wie in Russland oder anderen Autokratien des postsowjetischen Raums. "Wir kämpfen um die Existenz der Demokratie", sagt Schetyna, dessen Partei mit Grünen und Liberalen ein Listenbündnis eingegangen ist: die Bürgerkoalition (KO). Aber auch gemeinsam schaffen es die Mitteparteien in den Umfragen bestenfalls auf 28 Prozent. Eine Allianz aus der postsozialistischen SLD und der Parteineugründung Wiosna (Frühling) des linksliberalen Hoffnungsträgers Robert Biedron kann mit zwölf Prozent rechnen. Die strukturkonservative Bauernpartei kommt im Bündnis mit dem rechten Rocksänger Pawel Kukiz auf sieben Prozent.

Eine Wechselstimmung ist nirgendwo im Land auszumachen. Das hat nicht zuletzt mit den hervorragenden Wirtschaftsdaten zu tun. Polen boomt. 2018 wuchs das Bruttoinlandsprodukt um gut fünf Prozent. Das war der beste Wert seit zwölf Jahren. Die Arbeitslosigkeit sank zuletzt auf 3,2 Prozent. Das ist nicht nur Rekord seit dem Ende des Kommunismus, sondern bedeutet faktisch Vollbeschäftigung. Die PiS-Regierung nutzte die Lage, um das Soziale in der polnischen Marktwirtschaft zu stärken. Erstmals in der Geschichte des Landes führte sie ein Kindergeld ein. Rund 120 Euro monatlich erhält jede polnische Familie für das zweite und jedes weitere Kind. Zugleich nahm die Regierung die Rente mit 67 zurück und erhöhte den Mindestlohn.

Hinzu kommt ein psychologischer Effekt, von dem die Kaczynski-Partei profitiert. Die PiS-Regierung setzte sich über alle Warnungen von Ökonomen hinweg, die Wohlfahrtspolitik werde das Wirtschaftswunder abwürgen. Sie ignorierte, dass die wichtigsten US-Agenturen ihr Rating für Polen senkten und die Opposition über "wahnwitzige Wahlgeschenke" lästerte. Am Ende behielt die PiS recht. Die Staatsverschuldung liegt aktuell unter dem Wert von 2015, und die Ratingagenturen haben ihren Ausblick längst von "negativ" auf "stabil" geändert. Dass sich die Horrorszenarien nicht bestätigten, stärkte das Vertrauen der Menschen in die PiS.

Sozialpolitische Wohltaten In ihrem Wahlprogramm hat die Partei eine neue sozialpolitische Offensive angekündigt. Der Staat werde in Zukunft eine 13. Monatsrente zahlen und massiv in die Modernisierung von Krankenhäusern investieren. Auch Mindestlohn und Mindestrente sollen weiter angehoben werden.

Die Opposition kontert mit Versuchen, die sozialpolitische Agenda der Regierung zu überbieten. Kostenlose Medikamente für Alte und Behinderte, eine Pflegeoffensive und mehr Geld für Bildung hat die Bürgerkoalition ebenso im Programm wie die Linksallianz.

Weitgehend aus dem Blick geraten ist dabei der Streit um die Rechtsstaatlichkeit, der nach dem Wahlsieg der PiS von 2015 phasenweise Hunderttausende Menschen im ganzen Land auf die Straße trieb. Die Demonstranten protestierten damals lautstark gegen einen "Frontalangriff auf die Demokratie". Auch die EU-Kommission reagierte schnell und scharf. Nur zwei Monate nach dem Machtwechsel in Warschau brachte sie ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen auf den Weg, weil die PiS-Regierung die Staatsmedien und vor allem die Justiz samt Verfassungsgericht der Regierungskontrolle unterworfen hatte.

Doch inzwischen hat der Konflikt an Heftigkeit verloren. Zuletzt nahm die Regierung Teile ihrer umstrittenen Justizreformen zurück, nachdem der Europäische Gerichtshof die Gesetze für nicht vereinbar mit EU-Recht erklärt hatte. Bei PiS-Gegnern jedoch geht vor den Parlamentswahlen die Angst um, die Partei könnte nach dem 13. Oktober eine "zweite Welle anti-demokratischer Systemreformen" über das Land schwappen lassen. Anhaltspunkte dafür gibt es. In ihrem Programm kündigt die PiS unter anderem an, die Immunität von Abgeordneten, Richtern und Staatsanwälten aufheben zu wollen. Dafür bräuchte sie allerdings eine verfassungsändernde Mehrheit. Für die einen in Polen würde damit ein Traum wahr. Für die anderen bleibt es ein Albtraum.

Der Autor war lange Jahre Korrespondent in Polen und ist heute freier Journalist in Berlin.