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bahnpolitik : Schlingerkurs auf Schienen

Der DB haben vergangene Strukturveränderungen zugesetzt. Jetzt soll der Fahrgast in den Mittelpunkt rücken

21.01.2019
2023-08-30T12:36:15.7200Z
9 Min

Bahnfahren ist mehr als Fortbewegung. Wenn es läuft, wenn er mal pünktlich ist, der ICE, man einen Sitzplatz findet, und lautlos in Bewegung gesetzt wird, ein leise surrendes Beschleunigen auf 250 Stundenkilometer, dann ist Bahnfahren das Aushängeschild einer funktionierenden Gesellschaft. Dann sind die Hochgeschwindigkeitszüge die feierlich beschrifteten Visitenkarten einer Nation für ihre Reisenden: Rheingold, Rapido, TGV, ICE, Shinkansen. Namen, die für reueloses Rasen stehen, ein Traum der Moderne.

In ihrem derzeitigen Zustand ist die Deutsche Bahn hingegen rastlos scheinbar nur in dem Bestreben, ihre Kunden die Fahrt bereuen zu lassen. Entstanden ist die Deutsche Bahn AG vor 25 Jahren. Mit der Bahnreform 1994 wurde aus den beiden "Behördenbahnen", der Deutschen Bundesbahn im Westen und der Deutschen Reichsbahn im Osten, die privatwirtschaftlich organisierte Aktiengesellschaft Deutsche Bahn. Aktien sind allerdings nie zum Kauf angeboten worden und die Bahn ist immer noch ein hundertprozentiges Staatsunternehmen. Von den Plänen, die Deutsche Bahn an die Börse zu bringen oder teilweise zu privatisieren, ist 25 Jahre nach der Reform nicht mehr viel übrig. Im Gegenteil: Nun nimmt der Staat wieder mehr Einfluss auf die Bahn, denn sie soll nicht nur wieder zuverlässiger werden, sondern bis 2030 doppelt so viele Fahrgäste zählen wie heute. Die Eisenbahn war der Motor der Industrialisierung Deutschlands. Nun soll die Digitalisierung zum neuen Motor der Bahn werden.

Netz kleiner als in 1950ern Ein Blick auf das Vorfeld der Bahnreform: Der Anteil der Zugreisenden am Personenverkehr war zwischen 1950 und 1990 von 36 auf nur noch sechs Prozent gesunken. In der DDR war Zugfahren zwar populärer als in der Bundesrepublik, weil es kaum Autos gab und die Fahrkarten unschlagbar günstig waren. Am Ende war die Reichsbahn der DDR aber auch reichlich schrottreif. Der Investitionsbedarf in Ostdeutschland wurde nach der Wende auf 100 Milliarden Euro geschätzt. Die Schulden von Reichs- und Bundesbahn zusammen beliefen sich zu dem Zeitpunkt auf 66 Milliarden Euro. Anstoß für die Bahnreform war einmal der Traum, dass diese kein Zuschussgeschäft für die öffentliche Hand mehr sein sollte.

Die absolute Mehrheit der Abgeordneten war sich damals einig, dass der Markt besser im Fahrkartenverkauf sei als die Politik. "Verdienen statt dienen", mutierte zum Slogan. Zudem wurde die Verantwortung für die Bestellung des Nahverkehrs vom Bund auf die Bundesländer übertragen.

Als Erfolg der Bahnreform darf wohl gelten: Die Zahl der Fahrgäste hat sich seit 1994 verdoppelt, von 3,5 auf 7 Millionen pro Tag. Will man die Schattenseiten der Bahnreform auflisten, braucht man etwas mehr Zeit. Die Zahl der Angestellten hat sich zum Beispiel fast halbiert, von 352.000 auf 198.000 in Deutschland (weltweit sind es 330.000 Mitarbeiter. Die Bahn betreibt mehr als 1.000 Unternehmen in 130 Ländern, mehr als 200 Markennamen gehören unter ihr Dach).

Bundesweit sind seit der Bahnreform etwa 450 Strecken und rund 9000 Kilometer Schienen stillgelegt worden. Das Schienennetz ist immer noch das größte Europas. Es ist heute jedoch kleiner als in den 1950er Jahren. Das Autobahnnetz hat sich seitdem verachtfacht.

Nicht nur einzelne Provinznester wurden vom Fernverkehr abgekoppelt, sondern selbst Landeshauptstädte wie Schwerin, Magdeburg, Potsdam und Saarbrücken haben heute nur noch die Hälfte ihrer früheren Fernverbindungen. Außerdem hat die Bahn in den vergangenen 20 Jahren rund 1.700 Bahnhofsgebäude zumeist (zu) billig verkauft, mehrere hundert Bahnhöfe wurden ganz geschlossen. Gab es Mitte der 1960er-Jahre in Westdeutschland alle 4,1 Kilometer ein Bahnhofsgebäude, trifft man heute alle sieben Kilometer auf eines. Nur noch an 15 Prozent der Bahnhöfe gibt es Fahrkartenschalter.

1994 sind der Bahn vom Bund alle Schulden erlassen worden. Zehn Jahren später hatte sie erneut Verluste angehäuft, in Höhe von 38,6 Milliarden Euro. Wenn die Bahn Gewinn macht, überweist sie diesen an den Bund. Der wiederum bezuschusst Betrieb und Ausbau des Netzes, 28 Milliar-den Euro allein in den letzten fünf Jahren. Die Bundesländer überwiesen der Deutschen Bahn für den Nahverkehr zuletzt rund sieben Milliarden Euro. Es ist ein Geldkreislauf, der nicht immer sinnvoll erscheint. Heute hat die Bahn etwa 20 Milliarden Euro Schulden.

Bahnfremde Dienstleistungen Die Deutsche Bahn ist zwar einer der weltweit führenden Luftfracht- und Straßenfrachttransporteure. Doch der Anteil der Bahn am deutschen Güterverkehr liegt nur noch bei etwa 18 Prozent. In den 1950er Jahren waren es 66 Prozent. Die Deutsche Bahn erzielt heute fast zwei Drittel ihres Umsatzes mit bahnfremden Dienstleistungen, zum Beispiel Fluggesellschaften (BAX Global), Lkw-Speditionen (Hugo Stinnes GmbH), Fuhrparks (Bundeswehr) oder auch dem Ausbau des Schienenverkehrs in Indien und Saudi-Arabien. 40 Prozent ihres Gewinns macht das Unternehmen jedoch weiterhin mit dem heimischen Schienenverkehr.

Ihr Kerngeschäft hat die Deutsche Bahn jedenfalls vernachlässigt: Allein im "betriebskritischen Bereich" fehlen derzeit rund 5.800 Vollzeitstellen, also Lokführer, Zugbegleiter, Instandhaltungskräfte und IT-Spezialisten. Deshalb sind zur Zeit auch nur noch 20 Prozent der ICE ohne Mängel unterwegs, wie das ARD-Magazin Kontraste herausfand. Und deshalb kommen auch nur noch drei von vier Zügen im Fernverkehr pünktlich an. Vor der Bahnreform waren es in der Regel um die 90 Prozent. In den letzten zwölf Jahren hat die Deutsche Bahn dafür die Fahrkartenpreise um 41 Prozent angehoben. Autofahren ist im gleichen Zeitraum nur 13 Prozent teurer geworden.

Dennoch beträgt der Investitionsbedarf, laut Kontraste-Recherchen etwa 32 Milliarden Euro. Vieles ist so kaputt, dass es nicht mehr repariert werden kann, sondern neu gebaut werden muss. "Wir haben es mit einem Bahnsystem zu tun, das über Jahrzehnte auf Sparen getrimmt wurde, und nunmehr kollabiert", sagte der Vorsitzende der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer, Claus Weselsky, der Tagesschau.

Allein zwischen 2001 und 2005 hat die Deutsche Bahn geplante Reparaturen am Schienennetz im Umfang von 1,5 Milliarden Euro unterlassen. Man wusste also, dass man auf Verschleiß fährt. Als ein Grund dafür gilt auch: In der Regel zahlt der Bund für Neubauten, die Deutsche Bahn hingegen für die Instandhaltung ihrer Infrastruktur. Von der Bilanz her gedacht ist es deshalb für die Deutsche Bahn AG absurderweise sinnvoll, nicht zu reparieren.

Gute Bilanzen im Fokus Langfristiges Ziel der Bahnreform war, die DB und ihr Schienennetz zu privatisieren - wie es in Großbritannien gemacht wurde und in Frankreich nun ebenfalls geplant ist. Deshalb wurde auf gute Bilanzen der einzelnen Bahnsparten geachtet, was aber häufig zu Lasten der Bahnkunden und der Werterhaltung ging. Ein Beispiel: Zahlreiche Bahnhöfe, die die Bahn verkaufte, mietet sie nun. Kurzfristig bringt das Geld. Langfristig ist das aber natürlich teurer.

Die Interessen der potenziellen Investoren standen so häufig gegen die Interessen der Bahnkunden. Dies soll sich nun ändern. Die Bahn soll nicht mehr rentabel, sondern einfach gut werden. Im Koalitionsvertrag heißt es: "Für uns steht als Eigentümer der Deutschen Bahn AG nicht die Maximierung des Gewinns, sondern eine sinnvolle Maximierung des Verkehrs auf der Schiene im Vordergrund. Wir halten am integrierten Konzern Deutsche Bahn AG fest. Eine Privatisierung der Bahn lehnen wir ab. Das Schienennetz und die Stationen sind Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge." Bis 2030 sollen doppelt so viele Fahrgäste unterwegs sein wie heute.

Dieses ehrgeizige Ziel hängt mit einem anderen Versprechen zusammen: Deutschland droht, seine international vereinbarten Klimaschutzziele weit zu verfehlen. Bis 2020 sollen 40 Prozent weniger CO2 ausgestoßen werden als 1980. Aber im Moment sieht es so aus, als schaffe Deutschland höchstens eine Reduzierung um 32 Prozent. Der Ausstieg aus der Braunkohle stockt, und die Autoindustrie macht es noch schlimmer: Im Jahr 2017 zugelassene Autos stoßen sogar mehr Kohlendioxid aus, als solche, die 2016 zugelassen wurden. Der neue Bahnchef Richard Lutz sagte dem "Spiegel" vor Kurzem: "Die Politiker sind ja nicht in erster Linie Bahnfans geworden, weil sie plötzlich unsere Bahn so toll finden, sondern weil viele verstanden haben, dass es ohne uns nicht geht, die Klimaziele zu erreichen."

Politiker für den Aufsichtsrat Im Moment passiert deshalb das Gegenteil der Politik in den 1990ern: Statt Managern gehen nun vermehrt Politiker in den Aufsichtsrat. Nicht nur ist der Absatz über die Bahn im Koalitionsvertrag so lang geraten wie nie. Es gibt jetzt auch wieder einen Hohen Beauftragten der Bundesregierung für den Schienenverkehr. Enak Ferlemann von der CDU bekleidet dieses Amt seit April. Er sagt, der Bund werde viel Geld in die Bahn investieren müssen und wolle zuvor Lösungen dafür, wie sie als Unternehmen sinnvoller strukturiert werden kann und günstiger in ihrem Kerngeschäft wird. "Die Bahn produziert ihre Fahrleistung zu teuer", sagte Ferlemann dem Deutschlandfunk.

Bei einem Gipfel im März 2019 solle der Bahn-Vorstand der Regierung seine Reform-Ideen präsentieren. Das Bundesverkehrsministerium hat nun auch wieder eine eigene Eisenbahnabteilung. Derzeit gibt es etwa 800 Baustellen im Schienennetz der Bahn. Allein im Jahr 2018 werden 9,3 Milliarden Euro in die Schieneninfrastruktur investiert worden sein. Das ist fast viermal so viel wie 2004. Und es geht jetzt erst so richtig los. Ab 2019 werden zum Beispiel die 27 Jahre alten Schnellfahrstrecken Hannover - Würzburg und Mannheim - Stuttgart grundlegend erneuert, was allein nochmal geplante 825 Millionen Euro kostet. Mehrere Landesregierungen dringen derzeit darauf, stillgelegte Bahnstrecken wieder zu reaktivieren.

Bis Ende 2019 will die Bahn 34.000 neue Mitarbeiter eingestellt haben. Bis 2030 soll der sogenannte Taktfahrplan kommen, wie man ihn früher hatte, und den die Schweiz zum Beispiel immer noch hat. Bei einem Taktfahrplan verkehren die Züge einer Linie zu einem genau festgelegten Takt, zu-meist zur halben oder vollen Stunde. Bahnreisende müssen dann nur wenige Minuten auf ihre Anschlüsse warten - schließlich fahren die Züge zur halben oder vollen Stunde fast gleichzeitig in den Bahnhof ein. Dafür braucht man aber auch mehr Gleise an den Bahnhöfen.

25 Prozent mehr Züge will die Bahn einsetzen. Insgesamt soll es 190 neue Direktverbindungen mit 120 neuen Doppelstock-IC für fast alle deutschen Großstädte geben. Mehr als 360 ICE-Züge sollen bis 2030 schnelle "Metropolenverbindungen" im Halbstundentakt bieten. Zwölf Milliarden Euro gibt der Bund der Bahn allein in den nächsten beiden Jahren für den Kauf neuer Züge und die Sanierung alter. Ein 1.000-Bahnhöfe-Programm von Bund, Ländern und Kommunen soll das Warten auf die Bahn vor allem in kleineren Orten wieder erträglicher machen. WLAN soll in Zukunft in allen Zügen und Bahnhöfen kostenlos verfügbar sein. Bis 2022 sollen 85 Prozent aller Züge im Fernverkehr pünktlich sein.

Digitalisierung als Meilenstein Die wichtigste und teuerste Maßnahme, die sowohl Pünktlichkeit als auch Sicherheit verbessern soll, ist die Digitalisierung der Schiene. 35 Milliarden Euro soll sie kosten. Bisher ist noch knapp ein Drittel aller Stellwerke mechanisch. Züge und Weichen werden in Zukunft zentral von Computern effektiver gesteuert und besser kontrollierbar. Viele Stellwerke und alle Signale sollen verschwinden. Alle Gleise brauchen Internet. "European Train Control System", kurz ETCS, heißt diese Technologie, die in ihrer modernsten Ausbaustufe gerade im Erzgebirge getestet wird.

Eine weitere Baustelle für die Verkehrspolitiker: Die Bahn ist der Netzbetreiber, ihr gehören die Schienen, Bahnhöfe, Signalanlagen und Strommasten. Beziehungsweise gehört das alles den Töchtern einer Tochter der Bahn, der DB Netz, die es gegen Gebühr den anderen Tochterfirmen der Bahn zur Verfügung stellt: der DB Fernverkehr oder der DB Regio für den Personenverkehr oder der DB Cargo für den Güterverkehr, aber eben auch privaten Anbietern wie Abellio oder Flixtrains. Neben den DB-Firmen sind mehr als 300 Eisenbahnverkehrsunternehmen in Deutschland Kunden der DB Netz.

Wettbewerber und Kartellbehörden werfen der Bahn zu hohe Trassenpreise vor. Der Konflikt ist hier schlicht, dass der mit Abstand größte Wettbewerber im Schienenverkehr, die DB, den Marktzugang reguliert. Das ist ein bisschen so, als dürfte VW mitbestimmen, welche Automarken auf deutschen Autobahnen erlaubt sind. Die Eisenbahnverbände fordern eine Halbierung der Trassenpreise. Die Hoffnung der Verkehrsexperten: durch mehr Wettbewerb gibt es wieder mehr Innovation und neue Konzepte, wie auch bisher nicht lukrative Strecken betrieben werden können. Im Bereich des Schienengüterverkehrs hat der Bundestag bereits beschlossen, ab 2019 die Trassenpreise zu halbieren.

Schließlich keimt 25 Jahre nach der Bahnreform eine weitere Frage wieder auf: Warum ist die umweltfreundliche Bahn steuerlich gegenüber den Fluggesellschaften benachteiligt? Während diese weder Kerosin- noch Ökosteuer zahlen müssen und für internationale Flüge nicht einmal die Mehrwertsteuer erhoben wird, wird auf Fernverkehrstickets der Bahn nach wie vor der volle Umsatzsteuersatz erhoben. Der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler Tim Engartner hat errechnet, dass die Lufthansa auf der Strecke von Berlin nach Köln so rund 23 Euro Steuern spart gegenüber der Bahn - pro Fluggast. Engartner fordert deshalb: "Um mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen, braucht es eine Befreiung der Bahn von Mehrwert-, Öko- und Mineralölsteuer."