HOCHSCHULEN : Langer Atem der Kolonie
Postkoloniale Theorien behandeln die Langzeiteffekte der kolonialen Vergangenheit. Diese ist auch in Deutschland präsent
Ihr erstes Seminar zum Postkolonialismus gab Ina Kerner vor 15 Jahren. Die Professorin für Dynamiken der Globalisierung, die heute das Institut für Kulturwissenschaften der Universität Koblenz-Landau leitet, ist Expertin für die hartnäckigen Langzeiteffekte des europäischen Kolonialismus. Damals sei ihr der Vorwurf begegnet, postkoloniale Studien seien für die hiesige Wissenschaftslandschaft "zu exotisch". Die einschlägige Ablehnung hatte auch damit zu tun, dass der Kolonialismus in Deutschland oft als "Vergangenheit der anderen" wahrgenommen wurde.
Denn mit Verweis auf den Verlust der deutschen Kolonialgebiete im Anschluss an den Ersten Weltkrieg hob hierzulande früh eine geschichtsklitternde Erzählung an, in der die kolonialistische Expansion des 19. und 20. Jahrhunderts als alleinige Erbschuld von Briten, Belgiern und Franzosen erschien. Dort, wo man eine deutsch-koloniale Vergangenheit bekannte, wurde sie häufig idealisiert.
Lange Zeit befassten sich in Deutschland denn auch nur wenige Spezialisten wie der Historiker und Afrikawissenschaftler Andreas Eckert oder eben die Politikwissenschaftlerin Ina Kerner mit den historischen Ablagerungen kolonialer Praktiken und Denkmuster. Allmählich jedoch sei die Entwicklung einer kritischen Haltung auch über Experten-Kreise hinaus zu bemerken, sagt Kerner. "Mit den Debatten um das Humboldt-Forum und die Repartierung von Gebeinen und kolonialem Raubgut kommt der Diskurs allmählich in Gang." Auch würden die Erkenntnisse der postkolonialen Studien inzwischen vereinzelt in Lehrpläne sickern, so zum Beispiel im Englischunterricht. Insgesamt sei aber noch viel zu tun nicht zuletzt müssten sich die Mitglieder einer "weißen" Mehrheitsgesellschaft erst einmal umfassend bewusst machen, wie die postkoloniale Welt, in der wir leben, kulturell, politisch und wirtschaftlich aufgebaut ist.
Postkolonialen Forschern zufolge wirkt der europäische Kolonialismus nämlich nicht nur in den ökonomischen Machtbeziehungen von globalem Norden zu globalem Süden fort. Auch eurozentrische Klassifikationsschemata und postkoloniale Wahrnehmungsweisen seien nach wie vor überall vorhanden. "Was globale Entwicklung angeht, dominiert noch immer die Vorstellung, Europa sei der Motor der Geschichte", sagt Kerner. Oft wird der Kolonialismus in diesem Sinne zumindest untergründig mit positiven Attributen versehen; werden Landnahme, Ausbeutung und Raub zur zivilisatorischen Heilsbringung verklärt. Westliche Wirtschafts-, Kultur- und Politikmodelle erscheinen als Blaupause des Fortschritts, die regionalen Wissens- und Handlungssysteme werden als rück- und randständig gedacht.
In der Herstellung kollektiver Identitäten gilt vielen Expertinnen zufolge noch heute, was der große Theoretiker des Postkolonialismus, Edward Said, im Anschluss an Michel Foucault in seiner 1978 erschienenen Analyse des westlichen "Orientalismus" konstatierte. In Abgrenzung von dem als wild, geistlos oder rückständig entworfenen "Orientalen" versichert sich der "aufgeklärte Westler" seiner Vernunft und Überlegenheit. Der marginalisierte "Andere" wird somit zur Negativfolie der eigenen Identität gemacht. Eine Praxis, die in der kulturrassistischen Erzählung vom "Flüchtling", dem seine unhintergehbare Andersartigkeit und mithin die Unfähigkeit zur "Integration" regelrecht in den Leib geschrieben wird, bis heute ungebrochen Anwendung findet.
Tragisch wiegt dabei das sozialpsychologische Reaktionsmuster der auf diese Weise Abgewerteten, das der karibisch-französische Psychiater und Vordenker der Dekolonisierung Frantz Fanon bereits 1952 in seinem Werk "Schwarze Haut, weiße Masken" bezeugte. Der machtvolle "Blick" der Herrschenden, und mithin das Narrativ ihrer Minderwertigkeit, sei den kolonisierten Subjekten noch zusätzlich zur ständigen physischen Gewalt gleichsam "unter die Haut" gegangen. Die rassifizierten Menschen konnten nach Fanon kaum anders, als das Bild der Unterdrücker zu verinnerlichen und sich selbst als abweichend vom Normhaften zu sehen.
Auch in den postmigrantischen Gesellschaften der Gegenwart, so Kerner, würden die von der Mehrheit als "anders" identifizierten Menschen ständig mit einer "weißen Norm" konfrontiert, die für die als "weiß" geltenden unsichtbar sei. Tatsächlich bekommt, wer Luise oder Leopold heißt, wohl eher selten mit, was es für eine Aische oder Adissa bedeutet, auf dem deutschen Arbeitsmarkt vorstellig zu werden oder nach einer Wohnung zu suchen. So bemerken jene oft gar nicht, dass Weißsein das unmarkierte Normhafte darstellt, weil sie die tägliche Marginalisierung, die die als "schwarz", "muslimisch" oder "südländisch" Markierten erleben, im eigenen Alltag nicht mitbekommen. Nicht von ungefähr hat sich das ursprünglich aus den USA stammende Studienfeld der "Critical Whiteness", dass die komplexen Ausgrenzungsmechanismen "weißer" Mehrheitsgesellschaften analysiert, seit einiger Zeit auch in Deutschland etabliert.
Ökonomie Über die kulturellen Identitätskonstruktion hinaus ist die Vergangenheit auch auf der Ebene politisch-ökonomischer Fakten präsent. Die klassischen Ausbeutungsstrukturen im Nord-Süd-Verhältnis, zum Beispiel das Kleinhalten afrikanischer Ökonomien durch europäische Firmen und Regierungen, sind Ina Kerner zufolge bereits im kolonialen Zeitalter angelegt und niemals vollständig abgebaut worden. Die Geschichte Europas ist somit aufs engste mit der Geschichte der kolonisierten Regionen verflochten. "Es ist nicht so, dass zunächst der Kapitalismus entstand, der anschließend auf die Kolonien ausgegriffen hätte. Vielmehr konnten Industrialisierung und Kapitalismus nur deshalb reüssieren, weil es den Kolonialismus gab", sagt Kerner. Selbst das westliche Kultur- und Geistesleben sei mitunter durch koloniales Gold alimentiert worden. Folgt man den einschlägigen Denkerinnen des Postkolonialismus gründen unser Wohlstand und unsere Kultur also nicht zuletzt auch auf systematischer Ausbeutung und physischen wie geistigen Grenzziehungen.
Auch die strukturellen Probleme von Ländern des globalen Südens wie Armut, Autoritarismus oder mangelnde Rechtsstaatlichkeit sind keineswegs ausschließlich hausgemacht. So hat etwa der renommierte Historiker und Politikwissenschaftler Achille Mbembe wiederholt darauf hingewiesen, dass der Kolonialismus eine politische Kultur der Gewalt geschaffen hat, die als historische Hypothek auf den ehemals kolonisierten Ländern lastet. Zumal diese ohnehin meist als künstliche Gebilde durch willkürliche Grenzen entstanden sind, die die Kolonialmächte ohne Rücksicht auf kulturelle, religiöse und ethnische Gemeinschaften nach ihrem Gusto gezogen haben.
Und der Politikwissenschaftler Mahmood Mamdani hat gezeigt, dass nach Afrika exportierte Governance-Konzepte, wie die Herrschaftstechnik der "indirect rule", die lokale Herrscher zu Bütteln der Besatzer machte, die regionalen Checks-and-Balances-Systeme der ursprünglichen Regierungssysteme nachhaltig ausgehebelt haben.
Die postkolonialen Studien haben also ein weites Feld zu beackern, das sich nicht auf bestimmte Fächer beschränkt. An der Uni Kassel gibt es inzwischen eine Professur für Entwicklungspolitik und postkoloniale Studien. Ansonsten finden entsprechende Perspektiven erst langsam Einzug in die verschiedenen Disziplinen - mit Ausnahme der Anglistik, wo sie seit längerem etabliert sind. Natürlich wirkt das postkoloniale Theoriefeld auch über die Grenzen der Akademie hinaus.
Dekolonisierung In Deutschland sind aus Uni-Seminaren inzwischen viele Initiativen entstanden, die sich mit kolonialen Hinterlassenschaften in Städten befassen und etwa die Umbenennung von Plätzen und Straßennamen anstrengen, die nach Kolonialverbrechern benannt sind. Die umfassende Dekolonisierung der Perspektiven in Wissenschaft und Gesellschaft steht aber noch aus. Eine breitere Auseinandersetzung mit den kolonialen Vermächtnissen ist demnach unbedingt geboten. Christoph David Piorkowski
Der Autor ist freier Journalist.