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WAHLRECHT : Ein Drama mit vielen Akten

Das jahrelange Ringen um eine Neuregelung zur Begrenzung der Abgeordnetenzahl spitzt sich weiter zu

06.07.2020
2023-08-30T12:38:19.7200Z
6 Min

Es war nicht so, dass das Problem einfach übersehen wurde, als der Bundestag am 21. Februar 2013 das seitdem gültige Wahlrecht beschloss: Natürlich sei nach der folgenden Bundestagswahl zu analysieren, ob die Neuregelung dann "zu einer unangemessenen Vergrößerung des Bundestages geführt hat", und gegebenenfalls darauf zu reagieren, hieß es etwa aus der Union. Auch anderen Befürwortern des mühsam gefundenen Kompromisses schwante schon, dass das Parlament in der folgenden Legislaturperiode "nacharbeiten" müsse, wie ein Redner sagte, um "nicht dauerhaft zu einer ziemlichen Vergrößerung" zu kommen - die nämlich wäre "nicht gut für die Arbeitsfähigkeit und die Akzeptanz des Parlaments in der Bevölkerung".

Dennoch verabschiedete der Bundestag die Neuregelung mit breiter Mehrheit. Nur Die Linke votierte wegen der drohenden Parlamentsvergrößerung gegen das neue Wahlrecht, wenngleich die von ihr bevorzugte Alternative den "föderalen Proporz" unter den Bundesländern bei der Zusammensetzung des Parlaments "verzerrt" hätte.

620 Mitglieder zählte der Bundestag damals, und bei der Neuwahl im Herbst 2013 wuchs die Abgeordnetenzahl entgegen aller Befürchtungen verhältnismäßig moderat um elf auf 631. Das waren zwar immer noch 33 mehr als die gesetzlich fixierte Mindest- und Sollstärke von 598, galt aber als hinnehmbar. Dennoch rief der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) in der ersten Sitzung des neugewählten Parlaments dazu auf, rechtzeitig vor der nächsten Wahl noch einmal "gründlich auf das novellierte Wahlrecht zu schauen". Dass das Wahlergebnis von 2013 mit vier Überhangmandaten durch die neuen Berechnungsmechanismen zu 29 Ausgleichsmandaten geführt habe, lasse "die Folgen ahnen, die sich bei einem anderen, knapperen Wahlausgang für die Größenordnung künftiger Parlamente ergeben könnten".

Rekordwert Lammerts Appell verhallte indes folgenlos, auch ein von ihm selbst 2016 vorgelegter Reformvorschlag führte zu keinem Ergebnis. Wie begründet seine Warnung war, zeigte sich bei der Bundestagswahl 2017: Die Zahl der Abgeordneten wuchs nochmals um fast 80 auf den Rekordwert von 709, womit die Sollstärke in der laufenden Legislaturperiode um ganze 111 Sitze übertroffen wird. Zu viele, wie es auch im Parlament selbst heißt; zudem droht bei der nächsten Bundestagswahl ein weiteres Anwachsen auf mehr als 800 Parlamentarier. Dennoch zeichnete sich fast drei Jahre lang kein mehrheitsfähiger Vorschlag zur Verringerung ab; mittlerweile laufen bereits die Vorbereitungsfristen für die Wahl 2021.

Bewirkt worden ist der massive Anstieg der Abgeordnetenzahl im Jahr 2017 durch 46 "Überhangmandate", die zusätzlich durch 65 sogenannte Ausgleichsmandate kompensiert wurden. Was so kompliziert klingt, resultiert aus dem "personalisierten Verhältniswahlrecht" in Deutschland, das jedem Wähler zwei Stimmen zuweist. Mit der ersten wird die Hälfte der vorgesehenen 598 Parlamentarier per Mehrheitswahlrecht direkt in den 299 Wahlkreisen gewählt; das "Direktmandat" gewonnen hat, wer dort jeweils die meisten Stimmen erhält, also die relative Mehrheit erringt. Mit der anderen Stimme wird eine Kandidatenliste der Parteien gewählt; diese Zweitstimme für die Landeslisten entscheidet darüber, mit wie vielen Abgeordneten die einzelnen Parteien im Parlament vertreten sind.

Das Bundeswahlgesetz spricht daher von einer "mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl", wobei letztere den "Grundcharakter der Wahl" darstellt, wie nicht zuletzt das Bundesverfassungsgericht etwa in seinem Wahlrechtsurteil vom 25. Juli 2012 hervorhob (2 BvF 3/11). Danach darf dieser "Grundcharakter der Wahl als einer Verhältniswahl" auch nicht durch Überhangmandate aufgehoben werden, die dann entstehen, wenn eine Partei mehr Wahlkreismandate gewinnt, als ihrem Zweitstimmenergebnis entspricht.

Solche Überhangmandate, die bei knappen Mehrheitsverhältnissen im Parlament zum "Zünglein an der Waage" werden können, gab es im Bundestag fast immer. Allerdings hat ihre Zahl angesichts zurückgehender Zweistimmenergebnisse der in den Wahlkreisen gleichwohl starken Volksparteien zuletzt stark zugenommen: Aktuell sind es 43 für die Union und drei für die SPD. Damit die Zusammensetzung des Parlaments trotzdem dem Zweitstimmenergebnis der Parteien entspricht, beschloss der Bundestag 2013, diese Überhangmandate durch zusätzliche "Ausgleichsmandate" für zunächst leer ausgegangene Listenbewerber zu kompensieren.

Den vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil von 2012 zugestandenen Spielraum, rund 15 Überhangmandate nicht auszugleichen ("etwa die Hälfte der für die Bildung einer Fraktion erforderlichen Zahl"), nahm der Gesetzgeber bei der Reform 2013 nicht in Anspruch, sondern schrieb einen vollständigen Ausgleich der Überhangmandate fest. Dabei werden so viele zusätzliche Sitze an die Fraktionen verteilt, dass deren Kräfteverhältnis im Parlament wieder dem Zweitstimmenergebnis entspricht.

Viele Vorschläge So absehbar das damit verbundene "erhebliche Vergrößerungsrisiko" (Lammert) zumal in Zeiten einer sich wandelnden Parteienlandschaft war, so schwierig sollte sich in den Folgejahren das "Nacharbeiten" zur Begrenzung der Abgeordnetenzahl gestalten. Schon bei Lammerts Vorschlag von 2016, ab einer festzuschreibenden Höchstzahl von etwa 630 Sitzen darüber hinaus gehende Überhangmandate nicht mehr auszugleichen, sahen sich etwa die kleineren Parteien benachteiligt, die mangels entsprechender Direktmandate nicht mit Überhängen rechnen dürfen. Nach der Wahl von 2017 sollte dann eine Arbeitsgruppe mit Mitgliedern aller im Parlament vertretenen Parteien unter Vorsitz von Lammerts Nachfolger Wolfgang Schäuble (CDU) Abhilfe schaffen, kam aber nach rund einjährigen "intensiven Bemühungen" zu keinem Konsens. Schäuble warb daraufhin dafür, die Zahl der Wahlkreise (und damit der Direktmandate) von 299 auf 270 zu reduzieren und zugleich bis zu 15 Überhangmandate nicht auszugleichen. Das konnte auch etwa bei der CSU, die 2017 in Bayern (bei einem Zweitstimmenergebnis von 38,8 Prozent) alle Wahlkreise direkt gewann, keine rechte Freude wecken, wenngleich die Union von Überhängen ohne Ausgleich am meisten profitieren würde.

Auf entsprechend wenig Gegenliebe stießen später auch die Vorschläge der Oppositionsfraktionen. Bereits im vergangenen November lehnte der Bundestag einen AfD-Antrag (19/14066) ab, die Zahl der Direktmandate einer Partei entsprechend deren Zweitstimmenergebnis zu begrenzen. Wahlkreisgewinner mit den relativ schlechtesten Ergebnissen - mancherorts reichten schon weniger als 30 oder gar 25 Prozent - blieben dann außen vor und ihre Wahlkreise ohne direkt gewählte Volksvertreter. In dieser Woche brachte die AfD den Vorschlag erneut ein (19/20602).

Zum wiederholten Mal von der Koalitionsmehrheit vertagt wurde am vergangenen Mittwoch im Innenausschuss ein gemeinsamer Gesetzentwurf von FDP, Linken und Grünen (19/14672). Er zielt darauf ab, die Entstehung von Überhangmandaten möglichst zu vermeiden, indem das Verhältnis von Listen- und Direktmandaten von ursprünglich 50 zu 50 auf etwa 60 zu 40 zugunsten der Listenmandate verändert wird. Dazu soll der Vorlage zufolge die Zahl der Wahlkreise auf 250 verringert, die Gesamtsitzzahl dagegen auf 630 erhöht werden; zudem soll die "Vorabverteilung von Sitzen auf die Parteien in den Ländern" entfallen, da auch dieses Verfahren "zu unnötigem Ausgleichbedarf" führe.

Mit weniger - und damit zwangsläufig auch größeren - Wahlkreisen wollte sich insbesondere die CSU nicht anfreunden; auch aus den Reihen der Christ- und Sozialdemokraten kamen Bedenken, Stichwort "Bürgernähe". Andere in der Diskussion propagierte Modelle erreichten formal, etwa in Form von Anträgen, gar nicht den Bundestag, beispielsweise die Idee eines "Grabenwahlrechts" mit 299 Direkt- und 299 Listenmandaten - und als voraussichtlicher Folge einer absoluten Unions-Mehrheit im Parlament. Auch der vor Monaten präsentierte SPD-Vorstoß, für die nächste Wahl eine Obergrenze von 690 Abgeordneten vorzusehen und darüber hinausgehende Überhangmandate nicht zuzuteilen, erreichte bislang keine Drucksachen-Reife.

Derweil läuft die Zeit: Seit Donnerstag vorletzter Woche können die Parteien ihre Kandidaten für die Wahl im nächsten Jahr nominieren; die ersten Wahlkreisbewerber sind bereits aufgestellt. Jetzt noch Wahlkreiszuschnitte verändern zu wollen, gilt - je nach Einschätzung - als "sehr ambitioniert" bis "nicht mehr möglich". Auch bei anderen Eingriffen in das Wahlrecht ist eine bestimmte zeitliche Distanz zum näher rückenden Wahltag geboten. Ein drohendes Anwachsen des Bundestages auf mehr als 800 Parlamentarier aber tatenlos hinzunehmen, birgt die Gefahr des erwartbaren Vorwurfs an die Abgeordneten, inmitten der aktuellen Krisenzeit nur die eigene Absicherung im Blick zu haben - auch keine schöne Wahlkampfperspektive.

Unmittelbar vor der letzten Sitzungswoche des Bundestags vor der Sommerpause überraschte nun Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus (CDU) mit einem Vorstoß, für die Wahl 2021 die Zahl der Mandate auf maximal 750 zu begrenzen, wobei im Wechsel jeweils ein Überhangmandat gestrichen und eines nicht ausgeglichen werden soll. Nach langer Diskussion über verschiedene Modelle verständigte sich seine Fraktion schließlich am Dienstag auf den Vorschlag, die Zahl der Wahlkreise um 19 auf 280 zu reduzieren und sieben Überhangmandate nicht auszugleichen.

Ein gerade beim Wahlrecht wünschenswerter Konsens ist damit freilich nicht in Sicht, wie eine nochmalige Debatte am Freitag zeigte (siehe Beitrag unten). So wird es nach der Sommerpause zum nächsten Akt des Dramas kommen. Ob mit Finale, bleibt abzuwarten.