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TOURISMUS : Ausgebremst

17 Jahre in Folge verzeichnete die Stadt immer neue Besucherrekorde. Die Corona-Pandemie trifft die Branche nun ins Mark

24.08.2020
2023-08-30T12:38:21.7200Z
6 Min

Im komfortablen Reisebus durch Berlin kurven, dabei Swing hören und mit Filmen und Erzählungen mehr über das Berlin der 1920er Jahre erfahren: Vor der Corona-Pandemie waren die "videoSightseeing-Touren" von Arne Krasting (44) ein Highlight für geschichtsinteressierte Berlin-Touristen. Firmen schickten ihre Mitarbeiter mit Krasting zu den Originalschauplätzen der erfolgreichen ARD-Serie "Babylon Berlin", Lehrer ihre Schulklassen auf eine Zeitreise in die "Goldenen Zwanziger". Doch seit Beginn der Corona-Pandemie stehen die Busse still. "Während des Lockdowns im April und Mai lief gar nichts, es gab keine Touren und null Umsatz", erzählt Krasting und rührt nachdenklich in seinem Cappuccino. Weil er seinen Gästen nicht zumuten will, zwei Stunden mit Maske im Bus zu sitzen, führt er die nun überwiegend deutschen Touristen seit Juni zu Fuß und mit Tablets durch die Stadt. "Das finden die meisten entspannter." Damit niemand die Tablets selbst bedienen muss, hat er eine App entwickeln lassen, um die selbst produzierten Filme auf jedem Gerät starten zu können. "Die Touren kommen gut an, aber unser Umsatz liegt immer noch bei nur etwa zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr", berichtet Krasting. Wenn er an die Herbst- und Wintersaison denkt, wird ihm bange: "Wir haben viele Ideen, aber irgendwann müssen wir uns die Frage stellen, ob wir das 2021 noch schaffen."

Kalt erwischt Das Corona-Virus hat Krasting und die Touristenmetropole Berlin kalt erwischt. "Wir hatten Pläne für alle möglichen Krisenszenarien in der Schublade", sagt Christian Tänzler, Pressesprecher von visitBerlin, Berlins offizieller Organisation für Tourismus- und Kongressmarketing. Für Terroranschläge wie den vom Breitscheidplatz oder Airline-Pleiten wie Air Berlin. "Aber eine Pandemie dieses Ausmaßes konnten wir uns beim besten Willen nicht vorstellen." Wegen Corona brach die Zahl der ausländischen Gäste, sonst überwiegend Briten, Amerikaner, Italiener und Spanier, 2020 um 66 Prozent ein, im April und Mai kamen teilweise 98 Prozent weniger Gäste. Große Messen wie die Internationale Tourismusbörse wurden abgesagt, Firmenevents, Kongresse und Tagungen, die besonders im Herbst Hochkonjunktur haben und den Hotels wichtige Einnahmen bringen, sind wegen der Abstandsregeln kaum möglich. Ein Gau auch für Caterer, Künstler und Moderatoren.

Dabei freute sich die Branche noch im Februar über einen furiosen Jahresstart. "Alle Unternehmer erwarteten einen neuen Rekord hinsichtlich der Übernachtungszahlen", erzählt Thomas Lengfelder, Hauptgeschäftsführer des Hotel- und Gaststättenverbandes Berlin e.V. (Dehoga Berlin). Tatsächlich kannten die in Berlin laut Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 17 Jahre lang nur einen Weg - nach oben. Nach der Wende war es der einstigen Industriestadt gelungen, sich neu zu erfinden. Gründer, Kreative und IT-Unternehmen strömten an die Spree und mit ihnen Businessgäste und Messebesucher, Partygänger und Kulturfreunde aus aller Welt.

Betten-Rekord 2009 gab es laut einer im vergangenen Jahr veröffentlichten Studie der Investitionsbank Berlin (IBB) 109.694 Betten für Gäste in Berlin. 2019 waren es bereits rund 149.906 in insgesamt 787 Beherbergungsbetrieben. Die Zimmerauslastung in der Hotellerie erreichte mit 79,6 Prozent den höchsten jemals gemessenen Wert. Die Zahl der registrierten Besucher stieg im Vergleich zum Vorjahr um 3,4 Prozent auf knapp 14 Millionen, die der Übernachtungen um 3,8 Prozent auf 34,1 Millionen. Darin noch nicht enthalten sind all jene Gäste, die bei Freunden und Verwandten unterkommen (rund 34 Millionen) und in Privatunterkünften übernachten (rund 5,3 Millionen). Nach eigenen Angaben vermittelt allein die Plattform AirBnB in Berlin 13.045 komplette Wohnungen und damit so viele wie in keiner anderen deutschen Stadt. Nach einer hitzig geführten Debatte um die Verknappung von Wohnraum und das daraufhin vom Senat 2014 verabschiedete Zweckentfremdungsverbot hat die Stadt bis zum März 2019 allerdings rund 9.500 Home-Sharing-Unterkünfte und davon 4.500 Ferienwohnungen wieder dem allgemeinen Wohnungsmarkt zugeführt.

Das hat weder der Attraktivität Berlins als Top-3-Reiseziel in Europa nach London und Paris geschadet noch der wirtschaftlichen Bedeutung der Branche für die Stadt: 2019 bot das Berliner Gastgewerbe 109.000 Menschen einen Job, insgesamt leben in Berlin rund 235.000 Menschen vom Tourismus. Der Umsatz lag laut IBB bei 7,1 Milliarden Euro, die Bruttowertschöpfung bei 3,4 Milliarden Euro. Die Touristen zeigten sich spendabel und ließen rund 12,8 Milliarden Euro in Restaurants, Geschäften und anderen Dienstleistungsunternehmen. Beflügelt von diesem Erfolg sollten bis 2022 weitere 26 Hotels mit rund 5.450 Zimmern und doppelt so vielen Betten in der Stadt entstehen.

Mit Blick auf diese Zahlen ist für Dehoga-Geschäftsführer Lengfelder klar: "Der Tourismus und insbesondere das Gastgewerbe sind ein entscheidender Eckpfeiler des Berliner Wirtschaftswachstums. Wir müssen alles tun, um nach der Krise wieder an dieses Niveau anzuschließen."

Doch die Krise ist nach der erzwungenen Vollbremsung im Frühjahr nicht vorbei. So schrumpften die Übernachtungszahlen im ersten Halbjahr 2020 um 59,5 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Die durchschnittliche Bettenauslastung lag bei nur 30,1 Prozent. Zum Jahresende müsse im Hotel- und Gaststättengewerbe ein Rückgang der Umsätze um 50 Prozent und ein Verlust von mehr als 10.000 Arbeitsplätzen erwartet werden, warnt Lengfelder. "Viele Betriebe stehen mit dem Rücken an der Wand."

Auch Verena Jaeschke vom Hotel Oderberger im Szenebezirk Prenzlauer Berg trifft die Krise hart. "Vor Corona waren wir zu 90 Prozent ausgelastet, jetzt liegen wir immerhin wieder bei 70 Prozent", erzählt Jaeschke. Sie führt das Hotel und eine dazugehörige GLS-Sprachenschule zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester, erst 2016 hat die Familie das denkmalgeschützte Gebäude mit dem historischen Schwimmbad im Inneren aufwändig sanieren lassen. Nun kommen zu den Krediten für die Sanierung noch neue zur Abfederung der Corona-Folgen hinzu. "Wir sind bisher bei allen Zuschussprogrammen des Landes durchgefallen, weil wir mehr als 150 Mitarbeiter beschäftigen", erläutert Jaeschke, die nun auf Hilfen aus dem Konjunkturpaket der Bundes hofft. Derweil erprobt die Familie neue Wege: Die Sprachkurse finden überwiegend online statt, die großen Maisonettezimmer des Hotels werden als Home Office-Platz mit Druck- und Scanservice via Rezeption und "Boxspringbett zum Entspannen in der Mittagspause" angeboten.

Taskforce gegründet Die Familie hat außerdem ein umfangreiches Hygienekonzept inklusive kontaktlosem Check-In erarbeitet. Das ist längst nicht überall Standard, wie Dehoga und visitBerlin bemängeln. Unermüdlich appellieren sie an Hoteliers und Gastonomen, die Hygienegebote einzuhalten, um die Erfolge im Kampf gegen die Pandemie nicht zu gefährden. "Es wäre fatal, wenn einige Verantwortungslose, die sich nicht an die Regeln halten, den Ruf der Stadt verspielen würden, wonach sie Corona besser im Griff hat als andere internationale Metropolen", warnt Christian Tänzler von visitBerlin.

Zusammen mit Senat, Dehoga und dem Berlin Partner zur Förderung von Wirtschaft und Technologie arbeitet die Tourismusinstitution in einer Taskforce, um über Hygienekonzepte und Fördermaßnahmen zu beraten. Es wurden Konzepte für sichere Tagungen entwickelt, aber auch kommende Veranstaltungen wie die Berliner Weihnachtsmärkte sind Thema. "Die Weihnachtsmärkte sind extrem beliebt. Viele Touristen kommen im Dezember extra deswegen in die Stadt", sagt Tänzler, der darauf verweist, dass die Krise für visitBerlin eine doppelte Herausforderung ist: Als Anbieter des offiziellen Touristentickets Berlin WelcomeCard, von Veranstaltungstickets und Pauschalreiseangeboten "sind wir zur Zeit Arzt und Patient zugleich".

Neue Hilfen Die Landesregierung hat der gebeutelten Branche gerade neue Finanzspritzen zugesichert. Mit zehn Millionen Euro will sie Tourismusunternehmen helfen, die Krise zu bewältigen und sich neu auszurichten, heißt es in einer Pressemitteilung des Senats. VisitBerlin soll Geld für eine groß angelegte Werbekampagne bekommen, weitere zehn Millionen Euro sollen in einen "Corona-Kongressfonds" fließen, der Veranstalter zu Events noch in diesem Jahr ermutigen soll.

"Das einzig Positive an der Situation ist, dass sich ein neues Verständnis für die Bedeutung des Tourismus für Berlin entwickelt hat", meint Christian Tänzler. "Das ist ein komplexes System, an dem Einzelhandel, Kultur und Dienstleistungen und Hunderttausende Arbeitsplätze hängen."

Von Verena Jaeschkes 170 Angestellten in Hotel und Sprachenschule sind nach wie vor 80 Prozent in Kurzarbeit, nach den Sommerferien kommen wieder deutlich weniger Gäste ins Hotel. Trotzdem gibt sie sich zuversichtlich. "Wir sind mit Leidenschaft Hoteliers", sagt sie fröhlich. Auf keinen Fall will sie den Eindruck erwecken, nur zu jammern. Doch klar ist auch ihr: "Ein zweiter Lockdown wäre ein Todesstoß für die gesamte Branche."