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FRankreich : Frischzellenkur erwünscht

Eine Wahlrechtsreform liegt auf Eis

12.10.2020
2023-08-30T12:38:24.7200Z
3 Min

Mit einem alten Mann, dem allmählich die Puste ausgeht, wird das französische Wahlrecht gerne verglichen. Präsident Emmanuel Macron hatte deshalb vor seiner Wahl 2017 versprochen, dem Mehrheitswahlrecht eine Art Frischzellenkur zu verpassen und ihm eine "Prise" Verhältniswahl hinzuzufügen. Eine neue Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahl sollte es kleineren Parteien ermöglichen, stärker in der Nationalversammlung präsent zu sein.

Die Franzosen verbinden das Verhältniswahlrecht allerdings vor allem mit der Nachkriegszeit, die von ständig wechselnden, wackeligen Koalitionen geprägt war. Präsident Charles de Gaulle führte deshalb 1958 das Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen ein. Es garantiert dem Staatschef stabile Verhältnisse mit einer deutlichen Mehrheit in der Nationalversammlung. Nur eine Parlamentswahl machte seither eine Ausnahme: Präsident François Mitterrand setzte das Verhältniswahlrecht durch, um 1986 ein Debakel für seine Sozialisten zu verhindern. Die neue Art der Sitzverteilung führte allerdings dazu, dass 35 Abgeordnete des rechtsextremen Front National (FN) in die Nationalversammlung einzogen. Kritikern zufolge bereitete Mitterrand damit dem späteren Erfolg des FN den Boden. Die Verhältniswahl gilt seither als eine Art Schreckgespenst. Mitterrands Nachfolger, der Konservative Jacques Chirac, schaffte es schnell wieder ab.

Kritische Stimmen Doch die Stimmen, die zumindest einen Anteil Verhältniswahl fordern, wurden zuletzt lauter. "Die Nationalversammlung spiegelt die Realität der politischen Strömungen nur sehr schlecht wider", begründete der Politologe Jérôme Sainte-Marie im Radiosender France Culture die Vorstöße. So ist der Rassemblement National, der Nachfolger des FN, nur mit sechs Abgeordneten vertreten, obwohl die Partei von Marine Le Pen die Europawahlen 2019 mit gut 23 Prozent gewann. Macrons Partei La République en Marche (LREM), bei den Europawahlen knapp hinter dem RN, hat dagegen eine satte Mehrheit im Palais Bourbon.

Macron wollte eine Wahlrechtsreform umsetzen und gleichzeitig die Zahl der Abgeordneten um ein Viertel verringern. Bisher sitzen 577 Abgeordnete in der alle fünf Jahre neu gewählten Assemblée Nationale, darunter 17 aus den Überseegebieten und elf Vertreter der Auslandsfranzosen. Die Wahlkreise, die zwischen 63.000 und 200.000 Einwohner zählen, werden je nach demografischer Entwicklung immer neu zugeschnitten.

Verkleinerung vom Tisch Dass Macron vor der nächsten Parlamentswahl 2022 die Grenzen der Wahlkreise noch einmal neu zieht, ist unwahrscheinlich. Eine Verkleinerung des Abgeordnetenhauses ist damit vom Tisch. Die Corona-Pandemie dürfte auch den zweiten Teil der Reform, die Verhältniswahl, auf unbestimmte Zeit verschieben. "Die Franzosen haben im Moment andere Sorgen als eine Wahlrechtsreform", sagte Premierminister Jean Castex Anfang September.

Eine Gruppe LREM-Abtrünniger will zumindest beim Wahlalter noch einen Vorstoß wagen: Die Gruppierung Écologie, Démocratie et Solidarité kündigte einen Antrag an, der den Urnengang bereits mit 16 erlauben soll. Andere Parteien hatten in den vergangenen Jahren ähnliche Initiativen ergriffen, ohne dass sich am Wahlrecht ab 18 Jahren, das seit 1974 gilt, etwas änderte.

Das allgemeine Wahlrecht wurde 1848 eingeführt, allerdings nur für Männer. Frauen durften erst fast ein Jahrhundert später zu den Urnen, nämlich 1944. Der Anteil der Frauen in der Nationalversammlung wuchs seither stetig. 1958 saßen nur acht weibliche Abgeordnete im Palais Bourbon, nach der letzten Parlamentswahl 2017 stieg die Zahl auf 224. Dieser Höchststand ist ein Erfolg für Macron, der die Gleichstellung von Mann und Frau zu einem seiner wichtigsten Anliegen gemacht hat. Die Präsidentenpartei hat mit 47 Prozent auch den höchsten Frauenanteil im Parlament.

Ein Gesetz aus dem Jahr 2000 fordert von den Parteien bei den Parlamentswahlen einen Frauenanteil von 50 Prozent unter den Kandidaten. Wer dagegen verstößt, verliert öffentliche Zuschüsse. Dadurch ist die Nationalversammlung inzwischen zu 39 Prozent weiblich, wird aber weiter von einem Mann geführt. "Sie entschuldigen, dass ich keine Dame bin", sagte Präsident Richard Ferrand, nachdem die Wahl auf ihn gefallen war.

Die Autorin ist freie Korrespondentin in Paris.