Piwik Webtracking Image

Großbritannien : Die Ziellinie entscheidet

Keine Chance für Außenseiter

12.10.2020
2024-02-05T13:14:16.3600Z
3 Min

Nigel Farage wurde gewohnt deutlich: "Das britische Wahlsystem ist bankrott!", erklärte der Engländer, seinerzeit noch Chef der Anti-EU-Partei Ukip, nach der Unterhauswahl im Mai 2015. Ukip hatte 3,8 Millionen Stimmen bekommen, aber nur einen einzigen Sitz in Westminster. Zum Vergleich: 9,3 Millionen Wähler hatten für die Labour-Partei gestimmt - was der Linken 232 Sitze bescherte. Und die schottischen Nationalisten (SNP) gewannen 56 Mandate mit einem knappen Drittel der Stimmen, die Ukip bekommen hatte.

Wie ist das möglich? Weil das Vereinigte Königreich ein relatives Mehrheitswahlrecht besitzt, das die Briten landläufig als "First past the post"-System bezeichnen. Wer als erstes über die Ziellinie kommt, gewinnt den gesamten Wahlkreis. Mit der Folge, dass die weitaus meisten Mandate oftmals über Jahrzehnte immer an dieselbe Partei fallen, entweder an die Konservativen oder an die Sozialdemokraten.

Nigel Farages Schwur, das britische Wahlsystem zu reformieren, verlief im Sande. Obwohl die kleinen Parteien erwartungsgemäß großes Interesse an der Umstellung hin zu proportional zum Stimmanteil verteilten Sitzen haben. Die Grünen zum Beispiel gewinnen regelmäßig mehr als eine Million Stimmen bei nationalen Wahlen, haben aber nur eine einzige Abgeordnete, die in ihrem Bezirk Brighton Pavilion seit ihrem Sieg 2010 drei Mal wiedergewählt wurde.

Gescheiterte Reform Ein Reformversuch des damaligen Vize-Premiers Nick Clegg 2011 misslang. Der Liberaldemokrat hatte ein Rangfolgewahlrecht einführen wollen, bei dem die Stimmen immer weiter verteilt werden, bis ein Kandidat die relative Mehrheit hat. Im so genannten AV-Referendum stimmten 68 Prozent der Briten dafür, ihr antagonistisches System beizubehalten. Offensichtlich gefällt ihnen das Duell, das die gegenüberliegenden grünen Lederbänke im Unterhaus so gut illustrieren.

Britische Wahlkämpfe sind den US-amerikanischen in gewisser Hinsicht ähnlich. Wer schon einmal unterwegs war mit einem Kandidaten in einem fest in der Hand der Rivalen verharrenden Wahlkreis, bekommt zu hören: "Hier könnten sie auch eine Gans antreten lassen - so lange die Rosette am Hals die richtige Farbe hat!" Der Sieg von Boris Johnson 2019 war auch deshalb so historisch, weil die Tories Bezirke gewannen, die teilweise seit fast hundert Jahren fest in Labour-Hand waren.

Häuserwahlkampf Traditionell betreiben die britischen Parteien "Häuserwahlkampf", sie gehen von Tür zu Tür und werben bei ihrem Stammklientel dafür, dass sie auch beim nächsten Votum bitte ihr Kreuz an der "richtigen" Stelle machen. Dabei greifen die Parteistrategen auf ellenlange Computerlisten zurück, die akribisch die Stimmabgaben in den jeweiligen Bezirken festhalten. Vor allem wenn in einem Bezirk die Mehrheit des Mandatsträgers knapp ist, bedeutet das für die Parteibasis viele Nachmittage und Abende, an denen sie auf der Türschwelle Werbung machen. Bis zum letzten Augenblick sieht man sie am Wahltag ganze Viertel durchkämmen, um Anhänger zu mobilisieren.

650 Wahlkreise (constituencies) gibt es insgesamt. Durchschnittlich leben 71.000 Wähler in einem Bezirk. Na h-Eileanan an Iar in Scotland ist mit 21.000 der kleinste. Die Hauptstadt London mit ihren fast neun Millionen Einwohnern hat 73 Parlamentsbezirke.

Die jüngste Parlamentswahl vor einem Jahr war auch deshalb bemerkenswert, weil erstmals für die Labour-Partei mehr Frauen als Männer ins Unterhaus einzogen; Labour hat es sich ins Programm geschrieben, dass die Unterhausfraktion die ganze Nation "repräsentieren" müsse. Boris Johnsons Konservative hingegen kommen nur auf einen Frauenanteil von 25 Prozent. Innerparteilich gab es Kritik daran, dass die Männer in Bezirken antraten, die als sichere Tory-Bank gelten, während die Frauen hart um den (Wieder)Einzug ins Unterhaus kämpfen mussten. Bei der Wahl 2019 traten bei den Tories fünf weibliche und sehr bekannte Abgeordnete nicht mehr an, weil sie die Hetzjagd in den sozialen Medien einschließlich Morddrohungen nicht mehr erleben wollten.

Dabei hatte das Vereinigte Königreich jüngst noch drei der vier Spitzenjobs mit Frauen besetzt: Theresa May war Premierministerin, Nicola Sturgeon und Arlene Foster. sind Erste Ministerinnen in Schottland und Nordirland.

Die Autorin ist Korrespondentin der Zeitung "Die Welt" in London.