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Südkaukasus : Große Ambitionen

Russland und die Türkei bauen ihren Einfluss in der Region aus. Die EU scheint machtlos

21.12.2020
2023-08-30T12:38:27.7200Z
8 Min

Hinter der Autobahnabfahrt Richtung Churwaleti wacht ein Polizeiposten. Ein weißes Häuschen, vier Autos, die Polizisten tragen automatische Waffen und Mundschutz. Passkontrolle, etwa eine Dreiviertelstunde Fahrt von Georgiens Hauptstadt Tiflis entfernt. Von hier führt die Straße nach Norden in eine braune Ebene. Dahinter erheben sich die Berge des großen Kaukasus. Auf der anderen Seite liegt Russland, dazwischen Südossetien, das sich mit russischer Hilfe von Georgien abgespalten hat. Nach wenigen Minuten nicken die Polizisten freundlich. Zwei von ihnen steigen in einen weißen Pickup und fahren voraus, zwei weitere folgen in einem Jeep. Sicherheitsmaßnahmen.

Churwaleti ist das letzte Dorf auf georgisch kontrollierter Seite. Hinter dem letzten Haus verläuft ein Maschendrahtzaun: Er ist etwa 1,50 Meter hoch, dahinter liegen Stacheldrahtrollen. Ein grünes Schild warnt in Englisch und Georgisch: "Achtung! Staatsgrenze! Durchgang verboten!" Die Grenze allerdings erkennt außer Russland und einer Handvoll anderer Staaten niemand an. Dahinter ist ein rot-weißer Mast zu sehen: Ein russischer Militärstützpunkt, wie die Polizisten erläutern.

In einem Obstgarten erntet Avto Churoschwili Granatäpfel. "Die Lage ist unangenehm", sagt er. Der Teilzeitlandwirt zeigt in Richtung der Berge. Vor wenigen Wochen hätten die Russen dort einfach so einen Zaun gezogen. "Sie haben uns wieder mal einige Hektar Land gestohlen." Churoschwili baut in der Nähe des Zauns Weizen an und fürchtet um sein Land. "Wenn wir aufs Feld müssen, bestellen wir Polizeischutz. Anders wäre es zu gefährlich." Die Polizisten nicken. Etwa ein Fünftel des Territoriums Georgiens ist de facto von Russland besetzt.

»Kampfbereite Truppen« Das zweite Konfliktgebiet heißt Abchasien und grenzt gleichfalls an Russland. Auch dort hat Russland Soldaten stationiert. Der Konfliktforscher Paata Zakareishvili aus Tiflis war einige Jahre als Minister für die Wiedereingliederung der beiden Gebiete zuständig. Er spricht von "kampfbereiten Besatzungstruppen". Die Russen hätten dort "Raketen und Panzer, in Abchasien sogar russische Militärflugzeuge". Georgien, der engste Verbündete der USA im Südkaukasus, will Mitglied in der Nato und der EU werden. Dort ist man überzeugt: Russland wolle das verhindern, im Zweifelsfall auch mit militärischen Mitteln.

Mit dem wiederaufgeflammten Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach hat sich das Unbehagen in Georgien noch einmal verstärkt. Denn nun stehen weitere 2.000 russische Soldaten im Südkaukasus. Rund sechs Wochen hatten Armenier und Aserbaidschaner um das Separationsgebiet auf dem Staatsgebiet Aserbaidschans gekämpft, der Hass auf die jeweils andere Seite wuchs. Aserbaidschans Führung kündigte an, die besetzten Gebiete notfalls mit Gewalt zurückzuholen, was ihr in diesem Herbst zu einem großen Teil gelang. Ausgestattet mit Drohnen und anderem neuesten Militärgerät aus der Türkei und Israel, und offen unterstützt von der Regierung der Türkei, rückten die aserbaidschanischen Truppen schnell Richtung Karabach vor. Tausende Menschen starben. Russland, obgleich in einem gemeinsamen Sicherheitsbündnis mit Armenien, wartete ab.

Aus Russlands Sicht bestand kein Anlass zum Eingreifen. Denn Aserbaidschan griff im Herbst kein armenisches Staatsgebiet an, sondern lediglich Territorium, das nach internationaler Lesart zu Aserbaidschan gehört.

Russlands Präsident Wladimir Putin vermittelte jedoch einen Waffenstillstand. Überwachen soll ihn eine bewaffnete russische Friedenstruppe, die sofort entsendet wurde. "Russlands Position im Südkaukasus wird dadurch gestärkt", sagt Nikoloz Samkharadze, Mitglied der Regierungspartei "Georgischer Traum" und zuständig für Verteidigungspolitik und Kontakte zur Nato. Er spricht von einem "strategischen Sieg" Russlands. "Vielleicht ist das ein Anreiz für Russland, auch die Spannungen in den georgischen abtrünnigen Gebieten zu schüren. Warten wir es mal ab."

Durchkreuzt werden Russlands Ambitionen im Südkaukasus allerdings von der neuerdings aggressiv auftretenden Türkei. Konfliktforscher Zakareishvili nennt es einen "historischen Wendepunkt, dass die Türkei ihre Interessen in der Region neu formuliert und aggressiv vertritt". Dies sei annähernd hundert Jahre nicht geschehen. Anfang 1921 hatte das bolschewistische Russland Tiflis besetzt und die Türkei aus der Region verdrängt. Nun aber unterstützte die Türkei offen Aserbaidschan.

In Armenien wiederum ruft das Wiedererstarken der Türkei an den Rändern des untergegangenen Osmanischen Reichs große Sorgen und traumatische Erinnerungen hervor. Anfang des letzten Jahrhunderts wurden im Osmanischen Reich zwischen 300.000 und 1,5 Millionen Armenier systematisch ermordet und vertrieben. Armenien ist bis heute von diesem extremen Einschnitt geprägt, auch, weil die Türkei sich nie mit dem Genozid auseinander gesetzt hat.

Bereits während der Verhandlungen zum Waffenstillstand hat die Türkei darauf gedrängt, mit den russischen auch türkische Friedenstruppen in die Region zu entsenden. Sie scheiterte am Widerstand Russlands und der Armenier. Die russischen Soldaten seien eine bittere Pille für Aserbaidschan, erläutert Leila Alieva, Expertin für Osteuropa- und internationale Beziehungen an der Universtität Oxford. "Aserbaidschan war die erste von allen 15 ehemaligen Sowjetrepubliken, die die russischen Militärstützpunkte losgeworden ist." Viele Aserbaidschaner seien nun dafür, einen türkischen Militärstützpunkt ins Land zu holen, "um die Dominanz Russlands auszugleichen", sagt Alieva. Die Aserbaidschaner sind ein Turkvolk. Politisch hat die Türkei Aserbaidschan bereits seit dessen staatlicher Unabhängigkeit unterstützt.

Zwei Verlierer "Russland und die Türkei sind dabei, ihre Einflusssphären in der Region neu aufzuteilen", urteilt Boris Navasardian vom Yerevan Press Club, einer Nichtregierungsorganisation, die Debatten und Tendenzen in der armenischen Gesellschaft und der Region analysiert. Für ihn steht fest: "Der Krieg um Bergkarabach hat gezeigt, dass weder Armenien noch Aserbaidschan ihre volle Souveränität bewahren konnten." Beide seien Verlierer. Russland werde künftig versuchen, die Rolle der Türkei in der Region möglichst gering zu halten, zum Beispiel durch eine Wiederbelebung der Rolle der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Karabach-Konflikt. Die OSZE hatte nach dem ersten Karabachkrieg Anfang der 1990er Jahre eine Vermittlergruppe eingesetzt, an deren Spitze Frankreich, Russland und die USA stehen. "Die Türkei ist dort außen vor, ein Vorteil für Russland", betont Navasardian. Putin hat sich bereits dafür ausgesprochen, unter anderem das von Russland dominierte östliche Sicherheitsbündnis OVKS und die GUS, einen Zusammenschluss von Nachfolgestaaten der Sowjetunion, hinzuzuziehen.

Mit dem Iran kommt ein weiterer Akteur ins Spiel. Leila Alieva von der Universtität Oxford erinnert an die etwa 20 Millionen ethnischen Aserbaidschaner, die im Iran leben, etwa ein Fünftel der Bevölkerung. Der Iran sei deshalb nicht an einem starken Aserbaidschan interessiert. Während der Kämpfe schickten die Revolutionsgarden Truppen an die Grenze.

Der georgische Konfliktforscher Zakareishvili erinnert daran, dass auch der Iran kurzzeitig Interesse äußerte, Friedenstruppen in Richtung Karabach zu entsenden. Doch bisher halte sich der Iran eher zurück. "Er mischt sich nicht im Südkaukasus ein, weil er darauf setzt, dass die Türkei und Russland ihn im Gegenzug in Syrien gewähren lassen." Auch dort trifft der Iran auf beide Staaten.

Georgien hat sich im Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien stets um Neutralität bemüht und davon profitiert. Die Regierung betont, sie habe während des sechswöchigen Krieges keinerlei Waffen passieren lassen, weder aus der Türkei nach Aserbaidschan, noch aus Russland nach Armenien. Nach Unterzeichnung des Waffenstillstands hat Georgien allerdings seinen Luftraum für russisches Militär geöffnet, damit die russischen Truppen mit ihrem schweren Gerät möglichst schnell in das Kriegsgebiet gelangen konnten. Das sei auf Bitten der Aserbaidschaner und der Armenier geschehen, heißt es in Tiflis.

"Solche Genehmigungen darf es in nächster Zukunft nicht mehr geben", meint Wachtang Maisaia von der Caucasus International University in Tiflis. "Russland ist militärisch immer noch unser Feind". Maisaia gehört zu einer Gruppe georgischer Sicherheitsexperten, die ein stärkeres militärisches Engagement der USA in Georgien fordern. Bevor US-Außenminister Mike Pompeo Mitte November Tiflis besuchte, schrieben sie ihm das in einem offenen Brief. "Ein amerikanischer Militärstützpunkt in Georgien würde eine Balance herstellen und der regionalen Stabilität dienen", erläutert Maisaia. Pompeo versprach in Tiflis, die USA würden "alles in unserer Macht Stehende tun, um Ihren demokratischen Prozess zu unterstützen". Von militärischen Zusagen wurde nichts bekannt.

»Erst am Anfang« Die georgische Regierung setzt darauf, dass das Nato-Land Türkei stabilisierend in der Region wirkt. So betont Nikoloz Samkharadze von der Regierungspartei "Georgischer Traum" die Türkei sei "ein großer Fürsprecher eines Nato-Beitritts Georgiens".

Doch die Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdogan hat sich in den vergangenen Jahren in vielen Bereichen Russland angenähert, auch sicherheitspolitisch. "Es kommt zwar immer wieder zu Konfrontationen, aber im Großen und Ganzen setzt die Türkei auf einen Dialog mit Russland", sagt der armenische Experte Boris Navasardian. Das könne sich nach einem Machtwechsel in Ankara ändern, aber bisher müsse man mit Erdogan leben. Für Navasardian ist aber auch klar, dass Russland und die Türkei erst am Anfang ihrer Auseinandersetzung im Südkaukasus stehen: "Beide werden ihre Konflikte auch rund um Georgien ausfechten." Deshalb seien die anderen geopolitischen Akteure gefragt: Sie müssten nun entscheiden, wie stark sie sich engagieren wollten, um die Aufteilung der Region als Einflussbereich zwischen Russland und der Türkei aufzuhalten.

Drohender Bedeutungsverlust Navasardian sieht die Zukunft recht pessimistisch. "Wir wissen ja, wie die Lage in der EU ist." Sicherheitspolitisch spielt sie kaum eine Rolle in der Region, versucht aber, im Rahmen ihrer Nachbarschaftspolitik Rechtsstaatlichkeit und Institutionen in den Ländern des Südkaukasus zu stärken. Außer in Georgien ist sie damit kaum vorangekommen. Navasardian geht davon aus, "dass ein großer Teil der armenischen Gesellschaft und sogar der politischen Elite vergessen hat, dass wir Mitglied in diesem EU-Projekt sind". Er warnt vor einem weiteren Bedeutungsverlust der EU.

In den vergangenen Wochen sind etliche Videos von Folter und Enthauptungen aufgetaucht, brutale Verbrechen, die aufgeklärt werden müssen. "Nur wenn sich die EU um Menschenrechte, humanitäre Hilfe und auch um im Krieg begangene Verbrechen kümmert, kann sie Einfluss ausüben", meint Navasardian. "Wenn sie sich aber auf den Standpunkt stellt, dass der Krieg entschieden ist und dass man sich um Einzelheiten des Kriegsgeschehens nicht mehr kümmern muss, dann wird die EU in Armenien bald überhaupt keine Rolle mehr spielen."

Tatsache ist, statt ausgleichend zu wirken, hat die EU die Eskalation des Krieges um Bergkarabach mit ermöglicht. Jahrelang importierten EU-Mitgliedstaaten Rohstoffe aus Aserbaidschan. Und das, obwohl Aserbaidschan nie einen Hehl daraus gemacht hat, von den Gewinnen Waffen zu kaufen, um damit Bergkarabach zu erobern.

Der Krieg hat Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Region weiter geschwächt und den Einfluss autoritärer Staaten wie Russland und der Türkei gestärkt. Während die Regionalmächte ihre Einflusszonen abstecken, ist die Länder des Kaukasus von Stabilität weit entfernt. Der Waffenstillstand wurde bereits gebrochen und Präsident Alijew droht mit der "eisernen Faust Aserbaidschans", die bei anhaltender Aggression den Armeniern "erneut den Rücken brechen" werde. Große Teile der aserbaidschanischen Bevölkerung möchten derweil die Armenier endgültig aus Karabach vertreiben.

Der Autor ist freier Osteuropa-Korrespondent.