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Afghanistan : Warten auf den Wendepunkt

Ein Jahr nach dem Abkommen von Doha ist wenig passiert. Der Friedensprozess steckt fest

08.03.2021
2023-11-13T09:51:14.3600Z
5 Min

Der 29. Februar 2020 sollte, nach zahlreichen diplomatischen Pleiten und Pannen, ein Wendepunkt werden. An diesem Tag unterschrieben in Doha, Katar, die Unterhändler der US-amerikanischen Trump-Regierung und der afghanischen Taliban den Vertrag, der einen seit mehr als 40 Jahren währenden Krieg in Afghanistan beenden soll.

Seitdem ist, außer einigen Verhandlungsrunden, nicht viel passiert. Dennoch haben die USA große Teile ihrer Truppen aus Afghanistan abgezogen. Zurzeit trainieren und beraten nur noch 2.500 US-Soldaten die afghanischen Streitkräfte. Damit sank die Zahl der US-Soldatinnen und Soldaten am Hindukusch seit dem US-Einmarsch im Jahr 2001 auf das niedrigste Niveau. Insgesamt dienen gegenwärtig noch 9.600 Nato-Soldaten am Hindukusch.

Schon US-Präsident Barack Obama wollte dem Dauerkonflikt in Afghanistan entkommen. Mit einem "Surge", einer massiven Truppenaufstockung, suchte er den Krieg zu gewinnen - und so die Voraussetzungen für den Abzug zu schaffen. In den USA ist der Elan für den "Kampf gegen den Terror", der nach dem Al-Qaida-Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 entflammt war, verflogen. Die Kriege in Afghanistan und im Irak sind für die USA weder glanzvoll noch siegreich. Allein in Afghanistan starben in den 19 Jahren Einsatz bereits 2.352 US-Soldaten. So lag es nahe, dass auch Präsident Donald Trump nur noch "raus" wollte.

Die finanziellen Kosten des Krieges sind schwindelerregend. In seinem Bericht vom Januar bezifferte John Sopko, unabhängiger Sonderberichterstatter der US-Regierung für den Wiederaufbau Afghanistans (SIGAR) die Summe, die die USA allein seit 2008 für den Bau und die Pflege von Gebäuden und Fahrzeugen ausgegeben haben auf 7,8 Milliarden US-Dollar. Davon seien 6,6 Milliarden US-Dollar im Sumpf der Korruption versunken. Die Gesamtkosten des Unterfangens belaufen sich laut Sopko auf mehr als 143 Milliarden US-Dollar.

Das Doha-Abkommen und die Ankündigungen eines Rückzugs kommen daher in den USA innenpolitisch gut an. Für die Taliban ist Doha ein diplomatischer Jackpot. Unter den Afghanen selbst ist der Vertrag höchst umstritten. Schließlich wurde er ohne die gewählte afghanische Regierung geschlossen - eine Vorbedingung der Taliban. Damit ist es ihnen gelungen, die Legitimität der Regierung von Präsident Aschraf Ghani zu unterminieren und sich selbst als politische Macht aufzuwerten.

Das Doha-Abkommen besteht aus vier Kapiteln. Nur drei davon sind öffentlich bekannt. Das vierte dürfen nur Abgeordnete des US-Kongresses einsehen. Unklar bleibt, welche Verpflichtungen die Taliban gegenüber Washington eingegangen sind und welche Mechanismen die Einhaltung des Vertrages überwachen werden.

Steigende Opferzahlen Ein Jahr nach der Unterzeichnung ist außer dem Abzug zahlreicher US-Truppen aus Afghanistan kaum Positives zu beobachten. Der Krieg wütete in diesem Jahr noch brutaler denn je, hinzu kommt die Pandemie und eine erneute Verarmung breiter Bevölkerungsteile. Laut UN-Berichten sind innerhalb eines Jahres mehr als 30.000 Menschen Opfer des bewaffneten Konfliktes geworden - eine der höchsten Zahlen seit 2001.

Die Taliban selbst geben den Kampf nicht auf. Zwar greifen sie seit der Unterzeichnung des Vertrages Nato-Truppen nicht mehr an. Dafür beschießen sie unvermindert afghanische Soldaten und Sicherheitskräfte. Seit Doha konnten die selbsternannten Gotteskrieger sogar weitere Teile des Landes unter ihre Kontrolle bringen. Zuletzt auch wichtige Abschnitte der Straße, die die Hauptstadt Kabul mit der zweitgrößten Stadt Kandahar, verbindet. Unklar ist, ob die Taliban diese Abschnitte im Kampf eroberten oder ob das Geheimkapitel des Doha-Vertrages die afghanischen Regierungstruppen dazu verpflichtete, die mehr als 200 Kontrollpunkte entlang der Strecke aufzugeben.

Zudem hat das Töten eine neue, grausige Intensität erlangt. Gezielt werden nun afghanische Aktivisten, Politiker, Menschenrechtler, Ärzte und Journalisten getötet, kurz diejenigen, die das neue, das demokratische Afghanistan repräsentieren. Innerhalb eines Jahres starben 65 afghanische Journalisten.

Da die Taliban-Führung sich im Hinblick auf ihre Ziele für die Zeit nach einem eventuellen Frieden sehr bedeckt hält, befürchten vor allem afghanische Frauen das Schlimmste. Viele warnen davor, dass am Ende die Frauen die Verliererinnen des Friedensprozesses sein werden.

So ist wenig Hoffnung verbunden mit innerafghanischen Friedensgesprächen. Sie sollten zu einer allgemeinen Feuerpause führen, doch starteten diese erst mit sechs Monaten Verzögerung im Herbst 2020. Seitdem ist kaum etwas geschehen. Mitte Januar 2021 trafen sich die Parteien, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Wann es weitergeht, ist unbekannt. Ein verkorkster Stop-and-go-Friedensprozess.

Kleine Hoffnungsschimmer gibt es dennoch. So kooperierten kürzlich die Taliban und die afghanische Armee bei einem Taliban-geführten Großangriff gegen die lokalen IS-Kämpfer in der Provinz Kunar. Als die Taliban ihre gefährlichsten Konkurrenten besiegt hatten, ergaben sich die IS-Kämpfer nicht ihnen, sondern der afghanischen Regierung.

Präsident Aschraf Ghani betreibt unterdessen Schadensbegrenzung. Kürzlich stellte er klar, dass er sein Amt nur einem gewählten Nachfolger übergeben werde. Seine Regierung sucht den Schulterschluss mit der internationalen Gemeinschaft. Diese hatte im November 2020 Ghanis gewählter Regierung weitere finanzielle Unterstützung zugesagt. Die Erfahrung des ehemaligen afghanischen Präsidenten Mohammad Nadschibullah vor Augen, der mit sowjetischer Finanzhilfe bis Ende 1989 erfolgreich gegen die von den USA unterstützten Mudschaheddin militärisch standhalten konnte, glaubt Aschraf Ghani, dass die afghanischen Sicherheitskräfte den Taliban widerstehen können, solange seine Regierung finanziell unterstützt wird.

Der US-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Zalmay Khalilzad, dem zahlreiche afghanische Politiker wegen seiner extrem nachgiebigen Haltung gegenüber den Taliban misstrauen, versucht indes die innerafghanischen Gespräche zu beschleunigen. Letzte Woche bereiste er die Region und traf nicht nur Ghani und dessen wichtigsten innenpolitischen Gegner, den Chef des Afghanischen Friedensrates Abdullah Abdullah, sondern auch führende Politiker der Nachbarländer Afghanistans. Denn ohne die aktive Unterstützung von Afghanistans Nachbarn hat kein Friedensprojekt eine Überlebenschance.

Während Indien die afghanische Regierung unterstützt, gibt Indiens Erzfeind Pakistan den Taliban inoffiziell Rückendeckung. Aber auch Iran und die ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken im Norden Afghanistans haben starken Einfluss auf das Geschehen. Russland, China, Indien und Pakistan - Afghanistan ist eingekreist von miteinander ringenden Nuklearmächten, die jeweils ihre Interessen im Land verfolgen.

Schwierige Entscheidungen Der neue US-Präsident Joe Biden muss nun entscheiden, wie es weiter gehen soll mit dem Doha-Prozess. Die vom US-Kongress eingesetzte Arbeitsgruppe Afghanistan empfiehlt Biden einen neuen Umgang mit dem Vertrag. Demnach sollen die USA zu einem unabhängigen, demokratischen Afghanistan stehen, einen weiteren Truppenabzug von Bedingungen abhängig machen, ihre Unterstützung für den bestehenden afghanischen Staat und seine Sicherheitskräfte erklären, mit aktiver Diplomatie den Erfolg des Friedensprozesses garantieren und die Länder in der Region in den Prozess einbinden.

Biden hat demnach drei Alternativen: das Abkommen einhalten und die letzten Truppen bis zum 30. April abziehen. Oder die Truppen ohne zeitliche Begrenzung weiter in Afghanistan belassen. Oder mit den Taliban um eine Verlängerung des Abzugsplans verhandeln. Keine der Optionen bietet gute Aussichten.

Wählt Biden Option eins, riskiert er einen blutigen Krieg unter Afghanen und eventuell den Sturz der gewählten afghanischen Regierung. Beschließt er die US-Truppen unbegrenzt in Afghanistan zu belassen, riskiert er weitere empfindliche Verluste und wachsenden Unmut zuhause.

Bleibt die Idee, die Implementierung des Vertrages zu vertagen - was die Taliban vehement ablehnen. Um sie für diese Alternative zu gewinnen, müssten die USA weitergehende Konzessionen machen, wie Sanktionen gegen Taliban-Führer aufheben oder sie von der Liste der Terrororganisationen streichen. Für Biden, so viel steht fest, wird es keinen geglückten Exit aus dem Afghanistan-Konflikt geben. Auch, weil niemand an einen dauerhaften Frieden in Afghanistan glaubt. Cem Sey

Der Autor ist freier Journalist.