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BILDUNG : Notenvergabe

Die Opposition übt massive Kritik an Ministerin Karliczek. Die aber sieht eine »Aufbruchstimmung«

08.03.2021
2023-11-13T09:51:14.3600Z
4 Min

Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) und die Bildungspolitiker der Oppositionsfraktionen scheinen in zwei verschiedenen Ländern zu leben. Diesen Eindruck konnte man zumindest am vergangenen Donnerstag während der Debatte über den "Nationalen Bildungsbericht 2020" (19/24780) gewinnen. Und die Opposition formulierte es auch so. Die Ministerin leide an "Realitätverlust" bescheinigte ihr Margit Stumpp (Grüne), Thomas Sattelberg (FDP) warf ihr "Etikettenschwindel" vor, es fehle ihr der "Mut zur Wahrheit" befand Götz Frömming (AfD), Birke Bull-Bischoff (Die Linke) erkannte in Karliczeks Worten gar die Rede einer "Märchentante".

Es ist nicht ungewöhnlich, dass Regierung und Opposition die Dinge unterschiedlich bewerten. Doch selten fällt die "Betrachtung der Wirklichkeit", mit der Politik nach einem häufig wiederholten Zitat beginnt, so unterschiedlich aus wie am vergangenen Donnerstag im Plenarsaal des Bundestages. Ein Grund dafür lautet: Corona. Seit gut einem Jahr liegen weite Teile des Bildungssystems brach. Kitas, Schulen, Universitäten sind entweder geschlossen oder nur zeitweise geöffnet, die Schüler büffeln im Homeoffice ihrer Eltern, Lehrer bangen um ihre Gesundheit. Die Nerven aller Beteiligten liegen blank - auch die von Politikern.

Schulabschlüsse Neben dem Bildungsbericht stand ein gutes Dutzend von Oppositionsanträgen zur Debatte, die entweder neu eingebracht oder abschließend beraten und allesamt mit der Koalitionsmehrheit abgelehnt wurden. Auch in ihnen spiegeln sich die Auswirkungen der Pandemie auf den Bildungssektor. Aber es geht auch um grundsätzliche Fragen wie der nach der beruflichen Bildung oder der steigenden Zahl junger Menschen, die die Schule ohne Abschluss verlassen.

Thomas Sattelberger (FDP) erkennt im Bildungsbericht für 2020 deshalb einen "Armutsbericht". Die Zahl junger Menschen ohne Hauptschulabschluss sei gegenüber 2018 um fast 20 Prozent gestiegen und rund 30 Prozent der Schulabgänger beginne keine vollqualifizierende Ausbildung. "Sie landen im Dschungel des Übergangssystems. Und von dort gelingt gerade mal der Hälfte der Sprung in eine Ausbildung - nach zwei oder mehr Übergangsmaßnahmen." Die Zahl junger Menschen zwischen 20 und 35 Jahren ohne berufliche Ausbildung liege bei 1,5 Millionen, rechnete Sattelberger vor. Wenn schon der Bildungsbericht für 2020 so schlecht ausfalle, wie werde dann erst der für 2022 aussehen, wenn "das Bildungsfiasko" der Corona-Zeit in voller Tragweite abgebildet werde, fragte der FDP-Abgeordnete.

Dies befürchtet auch der AfD-Politiker Götz Frömming. Er forderte denn auch ein Ende des Schul-Lockdowns. Dass dieser eben nicht alternativlos sei, zeige das Beispiel Frankreich. Dort seien sogar weniger Fälle von schweren Krankheitsverläufen und Todesfällen durch Corona zu verzeichnen, befand Frömming. Die Situation im Bildungssektor habe allerdings auch vor Corona und Lockdown nicht gut ausgesehen. Die Zahl der Hauptschulen nehme bundesweit ab, weil die Hauptschule über Jahre hinweg "systematisch schlechtgemacht" und schließlich in Bundesländern wie Berlin "ganz abgeschafft" worden sei. Die Leistungen der Schüler seien dadurch aber nicht besser geworden, sagte Frömming. Das Gegenteil sei der Fall. "Ausgerechnet in Bayern, wo es noch die meisten Hauptschulen gibt, schneiden die Schüler quer über alle Schultypen relativ gut ab."

Digitalpakt Birke Bull-Bischoff (Linke) erkennt ebenfalls schwere Mängel im deutschen Schulsystem, die abgestellt werden müssten: Der Lehrermangel, der Mangel an Schulsozialarbeitern, der Mangel an schönen Schulen und der Mangel an digitaler Infrastruktur. "Was wäre das eigentlich für eine Schulleistung", wenn gerade mal 28 Prozent der Mittel aus dem Digitalpakt des Bundes an die Länder abgeflossen sind, fragte Bull-Bischoff Ministerin Karlizcek und schob die Antwort gleich nach: "Einen Abschluss schaffen Sie auf diese Weise ganz sicher nicht!" Der Bildungsweg hänge noch immer stark von der Herkunft ab, befand die Abgeordnete. So fänden sich alte und baufällige Schulen vor allem in den sozialen Brennpunkten und die digitale Infrastruktur werde vor allem in der dualen Bildung gefördert, nicht aber bei den Trägern der Jugendsozialarbeit oder im Übergangssystem., bemängelte die Linke.

In diesem Sinne argumentierte auch die Grünen-Abgeordnete Margit Stumpp. Nach wie vor hänge der Bildungserfolg vom Elternhaus ab. "Die Risikolagen - sozial, finanziell, formal geringqualifizierter Eltern - sind bei Alleinerziehenden und bei Familien mit Migrationshintergrund besonders zahlreich." Im Ergebnis stagniere die Zahl der Abiturienten und die Zahl der Abgänger ohne Abschluss steige. "Das Versprechen des Aufstiegs durch Bildung wird immer seltener eingelöst", resümierte Stumpp.

Auch von Seiten des Koalitionspartners musste sich Bildungsministerin Karliczek etliche Mahnungen anhören. Positiv sei, betonte Barbel Bas (SPD), dass sowohl die Ausgaben für Bildung ebenso gestiegen seien wie der Bildungsstand insgesamt. Zudem sei das Bildungssystem durchlässiger geworden. Aber der Bildungsbericht zeige die Defizite deutlich auf und auf diese sei die Ministerin zu wenig eingegangen, kritisierte Bas. Es sei zwar richtig, dass für den Abruf der Mittel aus dem Digitalpakt vor allem die Länder und Kommunen verantwortlich seien. "Aber ich erwarte von einer Bildungsministerin auch, dass sie das Problem in Angriff nimmt", sagte Bas Richtung Regierungsbank.

Die Angesprochene räumte auch ein, dass Corona die "Schwierigkeiten" gnadenlos offengelegt habe. Ja, es habe eine Weile gebraucht, bis die Digitalisierung ins Laufen gekommen sei. Und nein, nicht alles sei perfekt, sagte Karliczek. Aber der Mittelabfluss aus dem Digitalpakt steige, der Bund stelle inzwischen 6,5 Milliarden Euro bereit. Der Bund bezahle Laptops für Schüler und Lehrer und den Aufbau von Administratorenstrukturen. "Überall herrscht Aufbruchstimmung", befand die Ministerin. Es gehe ein "Ruck durch das Bildungsland Deutschland".