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INterview : »Müssen Juden etwas Besonderes leisten, um anerkannt zu werden?«

Marina Chernivsky forscht seit Jahren zu Antisemitismus und vermisst die selbstverständliche Präsenz des Jüdischen im Alltagsleben

04.01.2021
2023-11-13T09:51:14.3600Z
4 Min

Frau Chernivsky, dieses Jahr erinnern wir an 1.700 Jahre jüdische Geschichte in Deutschland. Welche Wissenslücken gilt es in diesem Zusammenhang vor allem zu schließen?

Es gibt ein pulsierendes jüdisches Leben in Deutschland: Doch die Geschichte setzt einen Rahmen, der die Wahrnehmung von und die Beziehung zu Juden und Jüdischem bis heute reguliert. Daher geht es nicht nur um Wissen, sondern auch um Beziehungen oder auch Beziehungslücken und auch um die Schwierigkeit, sich auf Menschen hinter einem Thema einzulassen. Juden werden oft historisch gedacht, nicht als Individuen, die hier und jetzt leben. In vielen Medienberichten werden Juden oft von hinten gezeigt, ohne Gesicht, mit einer Kippa auf dem Kopf. So etwas verfestigt diesen Blick. Diese Abspaltung wirkt dann so tief, dass es offenbar viele externe Maßnahmen braucht, um die Kontinuität und Normalität des Jüdischen im Deutschen aufzuzeigen.

Nun wird ja andererseits oft auf die umfangreichen Spuren der deutschsprachigen Juden in Literatur, Musik und Politik verwiesen.

Aber was ist mit den Juden, die Schuster, Schneider oder Verkäufer waren? Was ist mit ihrem Beitrag? Und müssen Juden etwas Besonderes leisten, um anerkannt zu werden? Die gesellschaftliche Akzeptanz misst sich nicht an diesen Spuren, sondern an der Bereitschaft, jüdische Präsenz als dazugehörig anzuerkennen. Dass es in der Realität noch ganz anders ist, zeigt sich im Alltag von Bildungseinrichtungen. Auch jüdische Feste in Kitas und Schulen endlich selbstverständlich "im Blick zu haben", wäre ein erster Schritt. Sonst bleiben die jüdische Tradition und damit auch die Menschen dahinter unsichtbar.

Wie hat es die erste Generation nach 1945 überhaupt geschafft, im Land der Täter zu bleiben? Noch dazu in einer Zeit des Schweigens über die Geschichte von Vernichtung und Vertreibung.

Ich denke, dass es eine Art Arrangement war. Viele Menschen waren von dem Willen getrieben, zu überleben und ihren Kindern ein halbwegs normales Leben zu ermöglichen. Viele Überlebende waren von Krieg und Verfolgung gezeichnet. Ihre Verlusterfahrungen waren massiv, aber sie sind damit auf unterschiedlichste Weise umgegangen. Diesen Schmerz haben sie auch an ihre Kinder weitergegeben. Ein Genozid wirkt anders als eine Naturgewalt. Dabei geht es nicht "nur" um einen massiven Eingriff in die physische und psychische Integrität eines Menschen, sondern um die soziale Identität einer ganzen Gemeinschaft. So etwas wirkt lange nach. Gleichwohl waren weder die erste Generation noch ihre Nachkommen eine homogene Gruppe.

Finden Sie es problematisch, dass auch heute noch so oft von "Deutschen und Juden" die Rede ist?

Menschen brauchen Selbstbestimmungsräume und das Recht, sich so zu sehen, wie sie sich sehen wollen und können. Letztlich ist das nicht nur eine individuelle Entscheidung, sondern eine kollektive, die durch die gesellschaftlichen Prozesse stark normiert wird. Juden, die hier leben, sehen sich zum Teil als Juden in Deutschland, jüdische Deutsche, deutsche Juden. Wichtig ist für mich, dass es Menschen sind, die hier mitten in dieser Gesellschaft Antisemitismus erfahren, der viel zu häufig banalisiert wird.

Die jüdischen Gemeinden haben sich durch Zuwanderung in den vergangenen 30 Jahren sehr gewandelt. Inwiefern kann man da überhaupt von einer Art "deutschem Judentum" sprechen und muss man das überhaupt?

Die Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion hat die Topographie und Demographie der Gemeinschaft auf den Kopf gestellt. Aber es gibt auch anderen Gruppen, die dazu kommen - Israelis, US-amerikanische Juden zum Beispiel. Sowohl in als auch neben den Gemeinden entstehen alternative Räume für jüdischen Diskurs. Diese Frage ist meiner Ansicht nach noch nicht zu Ende diskutiert. Angesichts der Verdichtung der Bedrohung durch Antisemitismus entstehen womöglich neue Fragen, die drängender sind. Deshalb würde ich denken, dass die Diskussion um die nationale Zugehörigkeit etwas überholt ist. In Deutschland als Migrationsgesellschaft steht die Frage im Fokus: Wer wird mitgedacht und wer nicht? Sind Menschen mit Migrationsbiografien und deutschem Pass deutsch genug? Die Debatte um Juden als Deutsche darf nicht losgelöst von diesen Fragen geführt werden.

Identitäten sind komplex und verändern sich. Wie hat sich der Bezug zu einem Ereignis wie dem Holocaust über die Jahre verändert?

Das ist nicht so pauschal zu beantworten. Aber ich würde sagen, dass es immer noch einen wichtigen Referenzpunkt darstellt. Aber es gibt auch so etwas wie die Post-Shoah-Identität, die sich nicht ausschließlich dadurch definieren lässt. Was Jüdinnen und Juden denken und fühlen, wie sie sich mit ihrer Identität auseinandersetzen, bleibt oftmals unsichtbar. Es lohnt sich aber, genauer hinzuhören, um zu begreifen wie ausdifferenziert diese Identitäten sind. Nicht zuletzt braucht es ein Sicherheit gebendes, solidarisches Umfeld, um sich ohne Vorsicht bewegen zu können.

2019 wurden rund 2.000 antisemitische Straftaten registriert. Nehmen Sie eine wachsende Entfremdung gegenüber Deutschland in der Community war?

Immer noch sind viele Vorstellungen von Juden antisemitisch konnotiert und in der Gesellschaft unter anderem in Form von Verschwörungsmythen tief verankert. Bis vor wenigen Jahren waren viele hier lebenden Juden jedoch zuversichtlich, als Minderheit Teil der politisch stabilen, demokratischen Gesellschaft zu sein. Heute sehen sie aber, wie dünn das Eis der Erkenntnis ist. Gleichwohl dürfen Juden nicht weiter als passive "Opfer" wahrgenommen werden, sondern als handelnde Akteure, deren Expertisen in der Bekämpfung von Antisemitismus unverzichtbar sind.

Marina Chernivsky, Psychologin und Verhaltenswissenschaftlerin, forscht unter anderem zu Antisemitismus. Sie leitet das Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment, dessen Träger die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland ist.