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Armenien : Alte Eliten im Aufwind

Bei den Neuwahlen am kommenden Sonntag steht für die Reformer viel auf dem Spiel

14.06.2021
2023-08-30T12:39:37.7200Z
4 Min

Harout Manougian sitzt in einem Büro in Eriwan am Rechner, hinter sich eine Landkarte Armeniens. "Der Grundstein für freie und faire Wahlen ist gelegt", sagt der Mittdreißiger. "Die schlimmen Zeiten, in denen die Leute stapelweise Wahlzettel in die Urnen gestopft oder für andere abgestimmt haben, sind vorbei." Manougian ist in Kanada aufgewachsen. Seine Urgroßeltern sind 1915 vor dem Genozid der Türken an den Armeniern geflohen. Heute arbeitet der Wahlforscher für die European Platform for Democratic Elections, ein internationaler Zusammenschluss von Wahlbeobachtern.

Die vorgezogene Parlamentswahl am 20. Juni findet nach neuen Regeln statt. Der Reformer Nikol Paschinjan und sein Bündnis, vor zwei Jahren nach einer friedlichen Revolution mit überwältigender Mehrheit an die Regierung gewählt, haben ein reines Verhältniswahlrecht mit geschlossenen Listen eingeführt. "Reiche Oligarchen haben jetzt weniger Chancen, Wähler zu bestechen", erläutert Manougian.

Die Wahlen demokratischer und fairer zu machen, war eines der wichtigsten Versprechen während der Revolution. Um weitere Schritte wie mehrjährige Haftstrafen für Wahlbetrug zu implementieren, war die Zeit jedoch zu knapp. Regierung und Opposition haben sich erst im Frühjahr auf vorgezogene Neuwahlen geeinigt.

Vorausgegangen waren lange Proteste gegen Paschinjan und sein Bündnis. Nach dem Krieg um Berg-Karabach war dessen Popularität massiv eingebrochen. Im Herbst vergangenen Jahres hatte Aserbaidschan die seit dem Krieg Anfang der 1990er Jahre an Armenien angebundene Enklave und umliegende von Armeniern besetzte Gebiete angegriffen. Das autoritär regierte Aserbaidschan eroberte mit hoch modernen Waffen und unterstützt von der Türkei große Teile des völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörenden Territoriums zurück. Nach mehreren tausend Toten und zigtausenden Flüchtlingen ließ sich Paschinjan auf einen von Russland vermittelten Waffenstillstand ein, die Armenier traten große Teile der Gebiete ab. Teile der armenischen Bevölkerung und die von ihm abgesetzten alten Eliten werfen ihm seitdem vor, er habe voreilig kapituliert und Armenien verraten. Paschinjan hofft, sich mittels der Wahlen die Unterstützung der Bevölkerung für seinen Reformkurs zurückzuholen.

Knappes Rennen 25 Parteien und Vereinigungen treten an. Für Parteien gilt eine Fünf-Prozent-Hürde, Bündnisse aus mehreren Gruppierungen müssen mindestens sieben Prozent erreichen. Umfragen sahen lange das regierende Bündnis von Premier Paschinjan vorn. Doch die Armenien-Allianz unter Ex-Präsident Robert Kotscharjan hat aufgeholt und lag zuletzt nur wenige Prozentpunkte hinter den Reformern. Kotscharjan war von 1998 bis 2008 Präsident Armeniens und kooperierte eng mit Russland und den Oligarchen.

"Nach dem Krieg gegen Aserbaidschan hat in Armenien ein Krieg gegen die Demokratie begonnen", sagt Lena Nasarjan, stellvertretende Parlamentspräsidentin und Weggefährtin Paschinjans. Die ehemaligen Machthaber täten jetzt so, als hätten sie mit dem Krieg nichts zu tun. "Dabei haben sie in den vergangenen 30 Jahren nichts unternommen, um den Konflikt zu entschärfen." Die bevorstehenden Wahlen seien "eine gute Gelegenheit für die Menschen, Bilanz zu ziehen und zu bewerten, wer mehr für Armenien getan habe: Die alten Eliten oder wir Demokraten", meint Nasarjan. Die Corona-Pandemie und der Krieg hätten die Reformen allerdings gebremst.

Es war der Reformeifer, der auch Wahlforscher Manougian 2019 dazu bewog, nach Armenien zu ziehen. "Ich war voller Hoffnung, wir könnten ein neues Kapitel in der Geschichte unseres Landes aufschlagen, die Abwanderung junger Leute stoppen und ein Land schaffen, in dem die Menschen gern leben."

Die Stimmung in der Bevölkerung ist noch angespannter, seit im Mai aserbaidschanische Soldaten wiederholt auf armenisches Staatsgebiet vorrückten. Ein armenischer Soldat kam ums Leben, aserbaidschanische Sicherheitskräfte nahmen mehrere armenische Soldaten gefangen. "Viele Menschen in Armenien denken jetzt, der Autoritarismus habe die Demokratie besiegt. Sie glauben, wir brauchen auch einen starken Anführer, der fähig ist, mit Wladimir Putin, Erdogan, Alijew und den anderen starken Männern an einem Tisch zu sitzen und zu verhandeln."

An dieser Stelle kommt Russland ins Spiel. Weil das bisher als Schutzmacht Armeniens galt, hat Paschinjan während des Machtwechsels 2018 ständig den Kontakt mit der russischen Regierung gehalten. Viele Armenier hatten auch im letzten Jahr gehofft, dass Russland ihnen helfen würde, Berg-Karabach und die von Armeniern besetzten aserbaidschanischen Gebiete gegen die Aserbaidschaner zu verteidigen. Doch das tat die russische Regierung nicht.

Frust und Enttäuschung sind daher groß. "Die Verteufelung des Kreml greift zu kurz", erklärt jedoch Alexander Iskandarjan. Er leitet das Caucasus Institute, einen Thinktank in Eriwan. "Russland ist zwar der Sicherheitspartner, wirtschaftlich und kulturell orientiert sich die Bevölkerung aber längst anders", erläutert Iskandarjan. "Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wann zuletzt ein Student an eine russische Universität wollte. Und das werde ich ganz sicher auch bis ans Ende meiner Tage nicht mehr erleben."

Je enger die Anbindung an das autoritäre Russland, desto schwieriger würden weitgehende demokratische Reformen, meint Iskandarjan. Dennoch habe Armenien keine Wahl. "Die Sicherheit des Landes hängt vom guten Willen der russischen Regierung ab."

Der Autor ist freier Osteuropa-Korrespondent.