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Bundesteilhabegesetz : Das Ziel ist klar

Der schwierige Weg, das Prinzip »Teilhabe statt Fürsorge« praxistauglich zu regeln

12.07.2021
2023-08-30T12:39:39.7200Z
5 Min

Es ist ein Jahr gewesen, in dem so intensiv wie selten über die Belange von Menschen mit Behinderungen diskutiert wurde: 2016. Anfang September legte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), damals noch unter Leitung von Andrea Nahles (SPD), seinen Entwurf für ein Bundesteilhabegesetz (BTHG) vor. Quantensprung, Paradigmenwechsel, Jahr der Inklusion - mit diesen Schlagworten warb die Bundesregierung für ihr Projekt. Doch so umfangreich der Beteiligungsprozess von Verbänden im Vorfeld, so groß war dennoch der Protest, als der Entwurf schließlich vorlag und die parlamentarischen Beratungen begannen. Sowohl die erste Lesung als auch die Experten-Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales wurden von lautstarken Protesten Tausender im Berliner Regierungsviertel begleitet.

Dabei war es durchaus ein ehrgeiziger Entwurf, den das BMAS da vorgelegt hatte. Im Einklang mit der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen sollte ein umfassendes Gesetzespaket die Leistungen für die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen aus dem Dschungel unterschiedlicher und oft undurchschaubarer Zuständigkeiten befreien. Der Begriff "Behinderung" wurde nach den Kriterien der UN-Konvention neu gefasst, Leistungen der Eingliederungshilfe sollten nicht mehr im Fürsorgesystem verankert werden. Damit wollte man der inklusiven Gesellschaft, die Menschen mit Behinderungen eine gleichberechtigte Partizipation in allen gesellschaftlichen Bereichen ermöglicht, einen bedeutenden Schritt näherkommen.

Nun ist es nicht so, dass vor 2016 nichts passiert wäre. Es gab Anpassungen im Grundgesetz und diverse Gesetzesprojekte gegen Diskriminierung aufgrund einer Behinderung und für den Abbau von Barrieren. Doch die UN-Konvention verlangte eben noch mehr von den Staaten, nämlich den Wechsel vom Prinzip der Fürsorge hin zur Teilhabe. Dieser Ansatz spiegelt sich auch im Kernstück des BTHG wider: in der Herauslösung der Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe des SGB XII (Zwölftes Sozialgesetzbuch) und deren Transfer in das SGB IX (Neuntes Sozialgesetzbuch) - mit einigen Neuerungen im Gepäck.

Leben auf Sozialhilfeniveau Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten Menschen mit einer geistigen, körperlichen oder psychischen Behinderung, die länger als sechs Monate anhält und die den Menschen wesentlich in seiner Teilhabe einschränkt. Mit ihnen sollen die Folgen einer Behinderung beseitigt oder zumindest gemildert werden. Dazu gehören unter anderem stationäres oder ambulant unterstütztes Wohnen, Schulbegleitung, Fahrdienste oder Teilhabe am Arbeitsleben. Im Jahr 2018 erhielten rund 943.000 Personen Eingliederungshilfe nach dem SGB XII. Bis zur Verabschiedung des BTHG führten jedoch die Beschränkungen des Sozialhilferechts dazu, dass eine gut verdienende Akademikerin, die eine persönliche Assistenz benötigt, auf Sozialhilfeniveau leben musste. Denn sie durfte nur 2.600 Euro von ihrem Verdienst sparen, der Rest wurde mit den Leistungen der Eingliederungshilfe verrechnet. Und da auch das Einkommen der Lebenspartner zur Finanzierung herangezogen wurde, war eine gemeinsame Wohnung unter Umständen eine zu hohe Hürde, von einer Heirat ganz zu schweigen.

Diesen Zustand beendete das BTHG in mehreren Stufen: Am 1. Januar 2020 trat die dritte von vier Reformstufen des Gesetzes in Kraft: Seitdem sind die Fachleistungen der Eingliederungshilfe klar von den existenzsichernden Leistungen für den Lebensunterhalt getrennt. Die Unterstützung erwachsener Menschen mit Behinderung richtet sich seitdem nicht mehr nach der Wohnform, sondern am individuellen Bedarf aus. Auch die Freibeträge für Einkommen und Vermögen, die schon in den ersten Reformstufen angehoben worden waren, wurden noch einmal deutlich erhöht: Zwar wird die Eingliederungshilfe immer noch abhängig vom Vermögen und Einkommen gezahlt, aber seit 2020 bleibt das Einkommen bis rund 30.000 und Vermögen bis knapp 60.000 Euro anrechnungsfrei. Auch wird kein Partnereinkommen- und -vermögen mehr herangezogen.

Beschlossen wurde 2016 außerdem, dass ein Reha-Antrag ausreicht, um alle benötigten Leistungen von verschiedenen Reha-Trägern zu erhalten. Außerdem wurde ein Netzwerk aus Beratungsstellen aufgebaut. Mit einem Budget für Arbeit soll die Teilhabe am Arbeitsleben gestärkt werden. Anstelle von Werkstattleistungen können nun auch Lohnkostenzuschüsse und Unterstützung im Betrieb durch dieses Budget ermöglicht werden. Umfangreiche Evaluationen begleiten die Umsetzung des BTHG.

Nach den heftigen Protesten Ende 2016 verständigte sich die schwarz-rote Koalition auf knapp 70 Änderungsanträge. So wurde unter anderem die 5-von-9-Regelung gestrichen, wonach Betroffene in fünf von neun Lebensbereichen eingeschränkt sein müssen, um Leistungen der Eingliederungshilfe zu erhalten. Dies hatte große Befürchtungen ausgelöst, dass der Kreis der Berechtigten damit deutlich eingeschränkt werden würde. Auch beim "Poolen", also dem Anbieten von Leistungen nur gruppenweise, gab es Verbesserungen für den Bereich der persönlichen Lebensführung innerhalb der Wohnung, außerhalb davon ist es aber nach wie vor möglich.

Im Bundestag wird diese Praxis vor allem von Linken und Grünen als "Zwangspooling" kritisiert, das mit dem Wunsch- und Wahlrecht der Betroffenen nicht vereinbar sei. Zwar haben beide Fraktionen und auch die FDP 2016 das BTHG als ersten wichtigen Schritt für mehr Teilhabe bewertet, fordern jedoch seitdem konsequent Nachbesserungen (zu den Positionen der Fraktionen siehe Text unten links).

Noch viel zu tun Heute, fünf Jahre später, zeigen sich trotz aller Fortschritte auch die Schwierigkeiten, das sehr komplexe Verfahren der Eingliederungshilfe reformiert in die Praxis zu übersetzen. Das leugneten auch die jetzigen Regierungsfraktionen nicht, als sie im März 2020 in einer Bundestagsdebatte eine Bilanz des BTHG zogen. Vor allem im stationären Bereich - oder in den "besonderen Wohnformen", wie es nun heißt - ist es oft schwierig, die Fachleistungen klar von den Lebenshaltungskosten zu trennen. Bei der Umsetzung durch die Bundesländer, in deren Trägerschaft viele Einrichtungen liegen, gibt es noch große Probleme und rechtliche Unsicherheiten. Da bekamen zum Beispiel Bewohner das Taschengeld nicht mehr, das sie nach alter Regelung bekommen haben. Auch kritisieren Betroffene immer wieder die Hürden für den Erhalt von Assistenzleistungen als zu hoch und die Bürokratie als schwer durchschaubar.

Es bleibt noch viel zu tun. Das war den Beteiligten 2016 klar und auch der Großen Koalition von heute. So beschloss der Bundestag erst im Frühjahr das Teilhabestärkungsgesetz mit vielen Änderungen an den Sozialgesetzbüchern, einem Budget für Ausbildung und einer Konkretisierung des leistungsberechtigten Personenkreises in der Eingliederungshilfe, auf die viele so lange gewartet hatten. Aus den Reihen der Oppositionsfraktionen kam dennoch harsche Kritik an den aus ihrer Sicht "Trippelschritten". Es wird wohl noch einige parlamentarische Initiativen brauchen, bevor sich eine Zufriedenheit auf breiterer Ebene einstellt.