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Lebensmittel : Verteilen statt wegwerfen

Millionen Tonnen landen in Deutschland pro Jahr im Müll. Aber es gibt Gegenwind

26.07.2021
2023-08-30T12:39:40.7200Z
4 Min

Der nicht mehr ganz frische Joghurt, die Banane mit braunen Stellen oder das Brötchen vom Vortag - viel zu oft landen diese noch nicht verdorbenen Lebensmittel im Müll. Rund zwölf Millionen Tonnen Lebensmittel werden so in Deutschland jedes Jahr vernichtet, obwohl ein großer Teil noch essbar ist. Dabei werden die meisten Lebensmittel nicht etwa in Großküchen oder im Einzelhandel weggeworfen. Rund 52 Prozent der Lebensmittelabfälle gehen auf das Konto von Privathaushalten. Umgerechnet heißt das: Jeder Verbraucher wirft im Jahr etwa 75 Kilogramm Lebensmittel weg. Diese Zahlen sind alarmierend. Gleichzeitig zeigen sie auch, wo das größte Potenzial für Einsparungen liegt.

Das Johann Heinrich von Thünen-Institut (TI) untersucht seit Jahren die Gründe für Lebensmittelabfälle und damit Ressourcenverschwendung. Einigkeit in wissenschaftlichen Studien herrscht darüber, dass etwa die Hälfte der Lebensmittelabfälle vermeidbar ist. Dazu zählen vor allem frisches Obst und Gemüse (jeweils 17 Prozent), zubereitete Speisen (16 Prozent) und Backwaren (14 Prozent).

"Wir wachsen in einer Konsumgesellschaft auf, in der wir im Überfluss leben. In der breiten Masse hat sich noch nicht das Bewusstsein durchgesetzt, wie wertvoll Lebensmittel sind", sagt Thomas Schmidt vom Institut für Marktanalyse des TI. Aber auch wenn im Einzelhandel vergleichsweise wenig Lebensmittel weggeworfen werden, sieht er dort eine wichtige Schnittstelle. Denn dieser habe einen großen Einfluss auf die Vorkette, also die Landwirtschaft, den Gemüseanbau, und auch auf das Einkaufsverhalten. Um bedarfsgerecht einzukaufen, brauche es Verhaltensänderungen der Verbraucher, aber auch Verhältnisänderungen des Lebensmittelhandels, heißt es in einer Studie des TI. Das betrifft zum Beispiel Sonderangebote, die oft für Großpackungen oder mehrere Packungen zusammen angeboten werden. Das so zu viel Eingekaufte landet dann im Müll.

Das Wertschätzungsproblem für Lebensmittel erklärt Schmidt auch mit Subventionen, zum Beispiel in der Landwirtschaft, und einem künstlich niedrig gehaltenen Preis für Lebensmittel. "Ich plädiere für einen höheren Preis. Aber für dieses Thema gibt es aktuell keine politische Lösung", sagt Schmidt. "Subventionsabbau ist deshalb ein wichtiges Stichwort."

Lebensmittelabfälle sind vor allem eine Ressourcenverschwendung von enormen Ausmaß. Laut einer Studie des WWF bedeuten 10 Millionen Tonnen weggeworfene Lebensmittel, dass jährlich 2,6 Millionen Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche "umsonst" bewirtschaftet werden. Das entspricht zusammen der Fläche von Mecklenburg-Vorpommern und dem Saarland. Hinzu kommen unnötig freigesetzte Treibhausgasemissionen in Höhe von 48 Millionen Tonnen.

Die Bundesregierung hat sich deshalb dem UN-Ziel angeschlossen, dass bis 2030 die Lebensmittelverschwendung halbiert werden soll. Bundesernährungsministerin Julia Klöckner (CDU) hat den Kampf gegen Lebensmittelabfall zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe erklärt. Dafür wurde 2019 eine nationale Strategie beschlossen, die in Dialogforen mit Erzeugern, Einzelhandel und privaten Haushalten Maßnahmen zur Vermeidung von Lebensmittelabfall erarbeitet. Die Informationskampagne "Zu gut für die Tonne" richtet sich dabei an Verbraucher und gibt Tipps, wie Lebensmittel besser gelagert, nicht mehr im Überfluss gekauft oder aus Resten noch leckeres Essen zubereitet wird. Während Deutschland auf Freiwilligkeit setzt, gehen andere EU-Länder per Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung vor. In Frankreich etwa sind Supermärkte gesetzlich verpflichtet, übrig gebliebene Lebensmittel an gemeinnützige Organisationen zu spenden.

Ehrenamtliche Retter "Eigentlich müsste es in jedem Dorf mit Bäcker Foodsharing geben", sagt Katja Scheel lachend. Bereits 2012 gründete sich die gleichnamige Initiative in Berlin und ist jetzt bundesweit, in der Schweiz und Österreich aktiv. Ihr Anliegen ist, Lebensmittel zu verteilen, die sonst weggeworfen werden würden. Ehrenamtliche Foodsaver holen überschüssige Lebensmittel in Supermärkten, Restaurants und Bäckereien ab und verteilen sie auf Fairteiler, öffentlich zugängliche Schränke und Kühlschränke, und über Netzwerke an soziale Einrichtungen.

Seit sechs Jahren ist Scheel dabei. In den vergangenen Jahren ist Foodsharing stark gewachsen und jetzt in fast allen Großstädten vertreten. Etwa 200.000 Nutzer haben sich nach Organisationsangaben registriert, rund 20.000 ehrenamtliche "Essensretter" sind aktiv. Immer mehr Läden und auch Restaurants kämen jetzt von selbst auf die Organisation zu, berichtet Scheel. Großes Ausbaupotenzial sieht sie noch bei den privaten Essenskörben. Über die Webseite können sich Nutzer vernetzen und so privat Lebensmittel abholen, also wenn beispielsweise Essen bei einer Party übriggeblieben, sagt sie.

Gleichzeitig ist nach Überzeugung von Foodsharing noch viel Aufklärungsarbeit notwendig - zum Beispiel über das Mindesthaltbarkeitsdatum. "Wir machen auch Verkostungen und die Leute schmecken keinen Unterschied", sagt Scheel. Denn das Mindesthaltbarkeitsdatum ist ein Prädikatsdatum vom Hersteller und sagt nichts darüber aus, ob die Ware verdorben ist. Viele Produkte wie Joghurt oder Kekse, Nudeln und Knäckebrot halten sich sehr viel länger als vom Hersteller angegeben. Anders verhalte es sich mit dem Verbrauchsdatum, beispielsweise für Frischeprodukte wie Fleisch. Das sollte eingehalten werden, betont Scheel.

Bei Foodsharing engagieren sich vor allem junge Menschen zwischen 26 und 33 Jahren. "Es reicht aber nicht, Lebensmittel abzuholen und in die öffentlichen Ablagen zu verteilen", sagt Scheel. Die Schränke müssten kontrolliert und die Kühlschränke täglich gesäubert werden. "Die größte Herausforderung für uns als schnell wachsende Organisation ist es, eine funktionierende Infrastruktur aus Ehrenamtlichen aufzubauen."

Die wohl am längsten bestehende Initiative zur Lebensmittelrettung sind die inzwischen rund 940 Tafeln, die Essenspakete an Bedürftige verteilen. Etwa 60.000 Ehrenamtliche sind bundesweit im Einsatz. Die Sozialpädagogin Sabine Werth gehörte 1993 zu den Mitbegründern der ersten Tafel in Berlin. Eigentlich sollte mit der Initiative die Situation der Obdachlosen verbessert werden. Inzwischen sind bundesweit 1,5 Millionen Menschen Kunden der Tafel - sehr viele Rentner, die in Altersarmut gerutscht sind, Alleinerziehende oder auch Familien.

Auch immer mehr Apps werden entwickelt, durch die sich regional Restaurants und Einzelhandel mit Verbrauchern vernetzen können. Bei der 2015 gegründeten Initiative "Too Good To Go" werden übrig gebliebene Lebensmittel günstig zur Selbstabholung angeboten. Die Kunden bezahlen direkt über die App und holen ihre Portion dann im angegebenen Zeitfenster vor Ort ab. In Deutschland hat die App nach eigenen Angaben etwa 4.000 Partnerläden in rund 400 Städten und eine Community von mehr als zwei Millionen Menschen.

Die Autorin ist freie Journalistin in Berlin.