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ESSAY : Das Herz und die Seele

Der ländliche Raum gilt vielen als Provinz. Doch wo liegt die eigentlich und was macht sie aus?

09.08.2021
2023-08-30T12:39:40.7200Z
9 Min

Er war "der Mann aus der Provinz": Kaum ein Porträt über Helmut Kohl kam ohne diese Sentenz aus. Zu Lebzeiten nicht und auch nicht nach seinem Tod. Ganz so, als sei damit alles gesagt. "Vom Politiker aus der Provinz zum Kanzler der Einheit" und ähnlich lauteten die Überschriften der Nachrufe auf den im Juni 2017 verstorbenen Alt-Kanzler. Und zumindest in seinen Jahren als Oppositionsführer in Bonn und auch den ersten Jahren seiner Kanzlerschaft stand das Label "Provinz" für sein vermeintliches Wesen - provinziell. Auf gut deutsch: Miefig, piefig, spießig.

Kohl sei "die Verkörperung des Peinlichen und Banalen" gewesen, attestierte die "Zeit" 2010 im Rückblick. "Kohl wurde nicht gehasst, er wurde verachtet. Man sah in ihm nicht den gerissenen Schurken, sondern den fatalen Tölpel." Er war der übergewichtige und tumbe Pfälzer aus Oggersheim oder einfach "Birne". So, wie ihn der französischer Karikaturist Jean Mulatier für die Titelseite des "Spiegels" anlässlich der Bundestagswahl 1976 gezeichnet und damit eine verächtliche Ikonographie für Jahrzehnte geschaffen hatte. In den Augen liberaler und linker Intellektueller konnte ein solcher CDU-Provinzler nicht bestehen. Schon gar nicht, solange im Bundeskanzleramt der weltmännische Helmut Schmidt (SPD) residierte. Und "Schmidt Schnauze" zeigte wenig Hemmungen, dies den "Herrn Dr. Kohl" mit geballter hanseatischer Attitüde spüren zu lassen. Gegen Hamburg kommt die Provinz nicht an - scheinbar.

Die Klischees Provinzler sind Hinterwäldler, Landeier, im schlimmsten Fall Bauern-tölpel und Dorftrottel, leben in verschlafenen Nestern oder den letzten Käffern wie Hintertupfingen, Posemuckel, Kleinkleckersdorf und Krähwinkel, auf jeden Fall janz weit draußen (jwd), auf dem platten Land, in der Walachei oder der Pampa, in the middle of nowhere, dort wo sich Hase und Igel gute Nacht sagen. Soweit das Negativ-Klischee. Das Gegenbild hingegen propagiert den bodenständigen, ehrlichen und lebenslustigen Provinzler in idyllischen Naturlandschaften und pittoresken Dörfern. Im 19. Jahrhundert stand diese positive Klischee-Provinz beim gehobenen Bürgertum und der Aristokratie hoch im Kurs. Im Wörterbuch der Brüder Grimm firmiert die "Sommerfrische" als "Erholungsaufenthalt der Städter auf dem Lande zur Sommerzeit".

Doch die Sache hat einen Haken. Obwohl jedermann genau zu wissen scheint, was die Provinz ist und wie ihre Einwohner ticken, so gehen die Meinungen mitunter weit auseinander, wo genau die Provinz beginnt und wo sie endet. Auf der Landkarte und im Geiste. Auf die ländlichen Räume ist die Provinz jedenfalls nicht beschränkt. In Deutschland zählt gerne mal alles außerhalb der Millionenstädte Berlin, Hamburg, Köln und München oder der Metropolregionen Rhein-Ruhr und Rhein-Main zur Provinz. Doch selbst Landeshauptstädte wie Hannover und Stuttgart laufen Gefahr, zur Provinz degradiert zu werden. Kohls ehemalige Wirkungsstätten Mainz und Bonn allemal. Unter dem Strich bedeutet eine solche Betrachtungsweise, dass die große Mehrheit in den 80 deutschen Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern in der Provinz lebt. Selbst die Hauptstadt wird auch von gebürtigen Berlinern mitunter als provinziell empfunden. Schon in den 1960er Jahren befand der Philosoph Ludwig Marcuse, "das Wort Provinz hat seinen Sinn verloren", ganz Deutschland sei Provinz.

Die Suche nach der Provinz führt wie so oft in der europäischen Geschichte direkt in die Antike. Als "provincia" bezeichneten die Römer ein unter ihrer Herrschaft und Verwaltung stehendes, erobertes Gebiet außerhalb Italiens. Ableiten lässt sich der Begriff aus "pro" (für) und "vincere" (siegen). Wie Kriegsbeute wurden die Provinzen von Rom dann auch mitunter behandelt. Nicht ohne Grund zierte die Inschrift "SPQR" (Senatus Populusque Romanus - Senat und Volk von Rom) die Feldzeichen der Legionen. Rom, das war die Stadt, nicht das Land. Und alle Wege führten nach Rom.

Das Sagen in den Provinzen hatten Politiker in hohen Staatsämtern, die nach Ablauf einer Amtsperiode in Rom als Statthalter in die Provinz geschickt wurden. Da sie sich mitunter für ihre pompösen Wahlkämpfe in ebenso pompöse Schulden stürzten, nutzen sie den Provinzposten gerne zur Sanierung des eigenen Geldbeutels. Bekanntestes Beispiel ist Gaius Verres, der sich in den Jahren 73 bis 71 v. Chr. als Statthalter von Sizilien den Ruf eines wahren Mafia-Paten erwarb, die Provinz nach Herzenslust ausquetschte und im Sumpf der Korruption versinken ließ. Überliefert ist der Fall der Nachwelt durch den Prozess, den der berühmte Politiker, Schriftsteller und Anwalt Marcus Tullius Cicero gegen Verres anstrebte und gewann. Ein Einzelfall blieb der Amtsmissbrauch nicht: "Arm kam er in die reiche Provinz, reich verließ er die arme", wurde zur geflügelten Redewendung, und in gewissem Sinne gilt sie bis heute. In den verarmten ländlichen Gebieten der USA traf Donald Trump mit seinen Tiraden gegen "die korrupten Eliten in Washington" nicht ohne Grund den Nerv der Rednecks.

Einer, der über viele Jahre Provinzerfahrung hat sammeln müssen, ist der römische Dichter Ovid. Kaiser Augustus verbannte ihn nach Tomis in die "Provincia Moesia". Etwas zu frivol soll dem sittenstrengen - aus heutiger Sicht vielleicht provinziellen - Augustus Ovids Werk über die "Liebeskunst" ausgefallen sein. Auf der neuzeitlichen Landkarte findet sich das antike Tomis in der rumänischen Großstadt Constanta am Schwarzen Meer wieder. Auf Ovids Landkarte jedoch war er am Allerwertesten des Imperiums und damit der zivilisierten Welt gestrandet. Und so klagte der hippe Großstadt-Dichter über sein Schicksal: "Kein liebenswürdiger Ort ist's, und auf der Welt kann es nichts Düsteres geben als ihn, oder die Menschen, kaum sind die Menschen noch wert dieses Namens und übertreffen gar Wölfe an grausamer Wut." Wenn Berliner Journalisten heute über die Tristesse der abgehängten und von Nazis bevölkerten brandenburgischen Provinz schreiben, dann klingt das ganz ähnlich.

Erhalten geblieben ist uns die römische "provincia" als Name für eine der schönsten Regionen Europas: die Provence. Als eine der ersten Besitzungen außerhalb Italiens kam die Region ab 125 v. Chr. unter römische Herrschaft und blieb es als "Provincia Gallia Narbonensis" für rund 600 Jahre, bis sie von den "barbarischen" Westgoten überrannt wurde.

Als provinziell geht die zwischen Rhone, Alpen und Mittelmeer gelegene Region heute nun wahrlich nicht mehr durch. Der Côte d'Azur mit ihren mondänen Stränden und Städten wie Nizza, Saint-Tropez und Cannes haftet so gar nichts hinterwäldlerisches an, eher das Flair des Jet Sets. Marseille, Orange und Avignon zeugen vom griechisch-römischen Erbe, den Päpsten und alten Verbindungen in die arabische Welt des Maghreb. Und über allem hängt eben nicht der Gestank von Kuhställen und Pferdemist, sondern der Duft von Lavendel, Bouillabaisse und Rotwein.

Ganz in der Nähe der Provence, zumindest in der Lesart des Pfälzer Kabarettisten Christian Habekost, liegt Helmut Kohls Heimat. Der kleine Landstrich mit 54.000 Quadratkilometern und rund 1,4 Millionen Einwohnern sei die einzige Region Deutschlands, "die am Mittelmeer liegt", schreibt Habekost in seiner "Gebrauchsanweisung für die Pfalz". Überhaupt sei dieser Landstrich, "wo Pinien und Zypressen am Wegesrand stehen, wo Feigenbäume wachsen und Mandeln blühen" im Sinne Hegelscher Dialektik die Synthese aus der These "Provinz" und Antithese "Provence". Die Pfalz sei "urdeutsch und mediterran, kosmopolitisch und provinziell, hipp und bodenständig, heimatverbunden und weltoffen". Zu einer ähnlichen Einschätzung kam Kohl bereits Ende der 1950er Jahre in seiner Doktorarbeit über "Die politische Entwicklung in der Pfalz und das Wiedererstehen der Parteien nach 1945": Sie beheimate "einen fröhlichen und weltoffenen Menschenschlag, der viel Sinn für das gesellschaftliche Zusammenleben und die Freuden der Zeit hat und dem dogmatisches Denken abgeneigt ist. Neben einem ausgeprägten Sinn für Toleranz besteht jedoch häufig ein allzu starkes und unangenehmes Selbstwertgefühl." In diesem "lautstarken Auftreten" habe auch der "Pfälzer Krischer" seinen Ursprung, befand der zukünftige rheinland-pfälzische Landesvater, der von 1969 bis 1976 in Mainz regieren sollte.

Das Selbstwertgefühl des "Pfälzer Krischers" war denn auch tief getroffen, als 1991 Ulrike Folkerts in der Rolle der Ludwigshafener Kriminalhauptkommissarin Lena Odenthal im fiktiven 120-Seelen-Dorf Zarten den Mord an einem rumänischen Spätaussiedler aufklären sollte. "Tod im Häcksler" nannte sich der dritte vom Südwestfunk produzierte "Tatort Ludwigshafen", der die Pfälzer derart empört aufkreischen lassen sollte, dass es bis in die Landeshauptstadt Mainz zu hören war. Entgegen dem in Tourismusprospekten verbreiteten Image des weltoffenen und mediterranen "Toskana Deutschlands" inszenierten die "Tatort"-Macher das Klischee von den harten, verbohrten und vom Inzest gezeichneten Provinzlern in der ökonomisch und kulturell abgehängten Westpfalz. Selbst der rheinland-pfälzische Landtag sah sich genötigt, über das "Zerrbild eines 'pfälzisch Sibiriens'" zu debattieren. Und die linke "taz" kommentierte süffisant, man könne es "Herrn Dr. Kohl" nicht verdenken, wenn er dem SWF ein geharnischtes Protestschreiben aus dem Kanzleramt zukommen lasse. Der Krimi versinke "in einer grotesken Überzeichnung provinzieller Zurückgebliebenheit".

Dabei hatte Kohl die pfälzische Provinz doch erst zur Bühne der Weltpolitik gemacht. Nicht in Bonn und nicht in Berlin, sondern im beschaulichen Deidesheim an der Weinstraße verhandelte Kohl mit den Großen der Welt über Europas Zukunft und die Rolle Deutschlands. Und das Ganze in seinem Lieblingsrestaurant "Deidesheimer Hof" bei heimischen Spezialitäten auf Sternekoch-Niveau wie Kartoffelsuppe, Bratwurst und Sauerkraut, Leberknödeln und Saumagen sowie der ein oder anderen Flasche Pfälzer Spitzen-Riesling.

Alles, was Rang und Namen hatte, tingelte mit dem Kanzler nebst Ehefrau Hannelore durch die Provinz, wahlweise mit Besuch des Speyerer Doms und Kohls Bungalow in Ludwigshafen-Oggersheim. Francois Mitterrand und Jacques Chirac kamen aus Paris, Michail Gorbatschow und Boris Jelzin aus Moskau, George Bush und Bill Clinton aus Washington. Sie alle erlagen Kohls "Saumagen-Diplomatie", wie der "Spiegel" nicht ohne Anerkennung analysierte, und ließen sich in der heimeligen und persönlichen Atmosphäre davon überzeugen, dass weder von der alten Bundesrepublik noch von einem vereinten und größeren Deutschland eine Gefahr für Europa und die Welt ausgeht. Nur bei Maggie Thatcher stießen weder der Saumagen noch Kohls Jovialität auf Gegenliebe. Die britische Premierministerin blieb eisern.

"In der Tat: Kohl ist provinziell", schrieb der Journalist Heribert Prantl 2001 anlässlich dessen 70. Geburtstag. Und fügte zugleich an: "Wer freilich Provinz gleichsetzt mit Dummsdorf, ist selbst provinzlerisch" Der Alt-Kanzler habe die Staatsmänner der Welt eben so kennen gelernt, wie man in der Provinz Menschen kennen lernt: "Man fragt sie nach Herkommen, Elternhaus, man sucht nach Gemeinsamkeiten." Selbst der bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß (CSU) habe den Pfälzer und seinen Politikstil gänzlich unterschätzt, als er prognostizierte, Kohl werde nie Kanzler, weil ihm "die charakterlichen und geistigen Voraussetzungen" fehlten. "Da verkannte einer, der so gern die Kraft der Provinz spielte, was die Kraft der Provinz wirklich ist", befand Prantl.

Die Kraft der Provinz mussten schon die alten Römer anerkennen. Im Jahre 98 n. Chr. gelangte mit Kaiser Trajan erstmals ein Mann aus der Provinz an die Spitze des Imperiums. Der aus Südspanien stammende Trajan machte sich schnell einen Namen mit innenpolitischen Reformen, das Reich erlebte seine größte territoriale Ausdehnung, und er galt bereits den zeitgenössischen politischen Kommentatoren als "der beste" Kaiser, der ein "äußerst glückliches Zeitalter" einleitete. "Der Provinzler ist, aufs Ganze gesehen, politisch und sozial leistungsfähiger als der Großstädter", schrieb der Schriftsteller Carl Amery. Vielleicht hat er ja recht.

»Nah bei de Leut« Es gibt natürlich Gegenbeispiele, die des Scheiterns. In den 2000er Jahren stürmte erneut ein Politiker aus der pfälzischen Provinz auf die bundespolitische Bühne: Kurt Beck. Der Sozialdemokrat schien eine Art Wiedergänger Kohls zu sein, nur mit anderem Parteibuch. Wie Kohl aus "einfachen Verhältnissen" stammend und zum Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz aufgestiegen, mit seiner barocken Leibesfülle dem Appetit des Alt-Kanzlers auf Deftiges in nichts nachstehend und mit einem ebenso aufbrausenden Naturell gesegnet. Beck, "ganz nah bei de Leut", konnte einen aufgebrachten Bürger schon mal auffordern, "das Maul zu halten", so wie Kohl zum Entsetzen seiner Leibwächter drauf und dran war, dem eierwerfenden Demonstranten von Halle das selbige auf gut pfälzisch "zu stopfen". Und genau wie Kohl musste Beck die Erfahrung machen, dass der hemdsärmelige Charme der Provinz in der Hauptstadt schnell auf Hohn und Spott stößt. Auch in der eigenen Partei. Dabei war der gelernte Elektrotechniker aus der Südpfalz, Sohn eines Maurers und einer Hausfrau, ein durchaus glaubwürdiger Vertreter der einstigen Arbeiterpartei. Doch kann so einer Kanzler? Die SPD meinte nein. Beck trat 2008 nach nur zwei Jahren als Bundesvorsitzender zurück.

In einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" befragt, ob er die Bezeichnung "provinziell" denn auch als Kompliment verstanden habe, verneinte dies Beck: "Weil ich wusste, dass es nie als Kompliment gemeint war." Dabei sollte es genau dies sein - ein Kompliment. Wer es nicht glaubt, der mag in die rheinland-pfälzische und nordrhein-westfälische Provinz an Prüm und Ahr, Erft und Rur schauen. Dort stehen die Provinzler Seit' an Seit' und schippen den Schlamm aus den Wohnzimmern ihrer Nachbarn. Hemdsärmelig, aber sozial leistungsfähig. "Provinziell muss die Welt werden, dann wird sie menschlich", war sich der selbsterklärte "Provinzschriftsteller" Oskar Maria Graf sicher. Oder anders ausgedrückt: Das politische Herz Deutschlands mag in Berlin schlagen, seine Seele aber wohnt in der Provinz.