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Glaube : Die Kirchen im Dorf lassen

Mit kreativen Ideen für Um- und Nachnutzungen trotzen Kirchen dem drohenden Leerstand

09.08.2021
2023-08-30T12:39:40.7200Z
3 Min

Als die Gemeinde ihre Michaeliskirche 2017 als Herberge anbot, dachte der Gemeindekirchenrat rund um Horst Brettel an ein einwöchiges Modellprojekt. Vier Jahre später gibt es die "Her(r)bergskirche" in Neustadt am Rennsteig in Thüringen immer noch - und das Bett in einer Nische des Kirchenschiffs erfreut sich bei Reisenden wachsender Beliebtheit. Entstanden ist das Vorhaben im Zuge eines Ideenwettbewerbs zur Um- und Andersnutzung von Kirchenräumen der Evangelischen Kirche Mitteldeutschland (EKM), die damit auf einen drohenden Kirchenleerstand wegen der ständig abnehmenden Zahl von Kirchenmitgliedern reagieren will. 20 Prozent aller evangelischen Kirchen, aber nur 3,2 Prozent der Protestanten gehören zur EKM, die sich über Teile Brandenburgs, Sachsens, Sachsen-Anhalts und Thüringens erstreckt. In diesem Gebiet konzentriert sich eine Problematik, die evangelische und katholische Verbände gleichermaßen betrifft. "Die Kirchenbesucher werden immer weniger und immer älter - irgendwann werden zu wenige Besucher da sein, um überhaupt noch Gottesdienste durchführen zu können", sagt Brettel. Dass zusätzlich Pfarrstellen zusammengelegt und viele Kirchen nicht mehr regelmäßig genutzt werden, verstärkt den Druck auf die Gemeinden, die für den Erhalt ihrer Gebäude verantwortlich sind.

Erweiterte Nutzung Besonders in ländlichen Gebieten sei der Trend zur erweiterten Nutzung zu sehen, erklärt Andreas Jensen, Referent für Seelsorge, Gemeindeformen und Gottesdienst bei der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD), dem Dachverband der 20 Landeskirchen. Knapp 25.000 Dorfkirchen gibt es, circa 11.000 sind evangelisch. "Kirche erfüllt in ländlichen Gebieten einen anderen Zweck als in der Stadt", sagt er. Wo in urbanen Gebieten Theater, Vereine oder Volkshochschulen für ein abwechslungsreiches und kulturelles Leben sorgen, übernehmen auf dem Land häufig die Gemeinden diese Aufgaben und seien wichtige Akteure für das Gemeinwesen. Ähnlich bewertet Jakob Johannes Koch, Kulturreferent im Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) die Lage: "Während Banken, Apotheken oder Bildungswerke sich aus ländlichen Räumen zurückziehen, bleiben die Kirchen und sind oftmals die letzte kulturelle Instanz vor Ort." So seien knapp 50 Prozent der öffentlichen Büchereien auf dem Land in kirchlicher Trägerschaft. In der St. Mariä Empfängnis Kirche in Neersen am Niederrhein ist zum Beispiel nach Verkleinerung des Kirchenraums die katholische Bücherei in das Gebäude mit eingezogen.

Besitzt eine Gemeinde mehr Kirchen als benötigt, kann ungenutzten Gebäuden durch Entwidmung beziehungsweise Entweihung (lat. Profanierung) der Status als Gotteshaus entzogen werden. Bei knapp 380 protestantischen und 550 katholischen Kirchen ist dies bisher geschehen. Welchem Zweck eine ehemalige Kirche dienen darf, hängt bei den evangelischen Kirchen stark vom Einzelfall ab, während die DBK klaren Regelungen folgt. "Eine profanierte Kirche bleibt äußerlich eine Kirche, weshalb Menschen mit bestimmten psychologischen Erwartungen an das Gebäude herantreten", sagt Koch. Das Innere solle nicht im Kontrast dazu stehen. Alkoholausschank auf ehemaligen Altären oder Bordelle findet man daher in entweihten Kirchengebäuden nicht, Buchhandlungen, Galerien oder Konzerthallen sind hingegen gern gesehene Optionen, in ländlichen wie urbanen Gebieten. In Mönchengladbach etwa ist vor knapp elf Jahren die Kirche St. Peter zur ersten Kletterkirche Deutschlands umgenutzt worden. Ein Boulder-Bereich auf der ehemaligen Empore und 13 Meter hohe Wände laden zum Klettern ein.

Sorge um den Erhalt des Christentums im ländlichen Raum haben beide Verbände nicht. Dabei nimmt die Zahl der Theologiestudierenden und somit potenziellen Priester und Pfarrer stetig ab. Im Jahr 2008 gab es erstmals weniger als 100 Priesterweihen, im vergangenen Jahr lag die Zahl bei 56. Seit 2013 hat auch die Neustädter Michaeliskirche keinen eigenen Pfarrer mehr Gottesdienste finden im Wechsel mit der Nachbargemeinde alle zwei Wochen statt. Das Pfarrhaus dient nicht nur, aber auch den Übernachtungsgästen als Aufenthaltsraum, bis vor kurzem nutzten sie zudem die sanitären Anlagen dort. Nachdem ein Bad in die Kirche gebaut wurde, müssten die Gäste nicht mehr zwingend ins Pfarrhaus, sagt Brettel. Damit sei das Projekt "Her(r)bergskirche" langfristig gesichert, selbst wenn ein neuer Pfarrer einziehen sollte - und es macht Schule: Mittlerweile bietet eine weitere Gemeinde am Rennsteig ein Bett unterm Kirchendach an, zwei mehr sind in Planung.