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Wirtschaft : Die Lokal-Meister

Hunderte Weltmarktführer haben ihren Sitz in deutschen Kleinstädten. Ihr Erfolg strahlt auf die ganze Region aus

09.08.2021
2023-08-30T12:39:40.7200Z
6 Min

Wer von der Bundesstraße 469 abbiegt, um in Klingenberg am Main mit Blick auf die malerischen Weinberge ein Gläschen Spätburgunder zu genießen, kommt an Wika nicht vorbei. Oder vielmehr: Alle von Westen kommenden Besucher müssen an Wika vorbei, bevor sie den Fluss passieren und in eine der kleinen Häckerwirtschaften purzeln, in denen die Winzer ihren weltberühmten Wein servieren. Der Kontrast könnte kaum größer sein: auf der einen Mainseite die historische Altstadt von Klingenberg mit ihren prächtigen Fachwerkhäusern, auf der anderen der Komplex aus zweckmäßigen Neubauten, umgeben von Einfamilienhäusern - der Firmensitz der Wika SE&Co KG.

Seit mehr als 75 Jahren stellt das Unternehmen in der unterfränkischen Kleinstadt Messgeräte aller Art her: für Druck, Temperatur, Füllstand, Kraft. Mit einem Jahresumsatz von inzwischen mehr als einer Milliarde Euro ist es Weltmarktführer auf dem Gebiet der Manometer-Produktion - und damit eines von mehr als tausend Unternehmen in Deutschland, für die der Wirtschaftsprofessor Hermann Simon vor 30 Jahren den Begriff "Hidden Champions" geprägt hat. Anders als Großkonzerne kennt die breite Öffentlichkeit diese Firmen oft nicht, sie sind meist inhabergeführt und nicht börsennotiert. Und anders als Großkonzerne sind sie vor allem im ländlichen Raum, in kleinen bis mittleren Städten, zu finden - so wie Wika.

Anfang mit Stanzpresse "Mein Großvater hat hier nach dem Krieg ein Gebäude mit einer Stanzpresse gekauft - so hat es angefangen", erzählt Alexander Wiegand, der in Klingenberg geboren ist und das Familienunternehmen seit 1996 in dritter Generation leitet. Rund 2.000 seiner Mitarbeiter arbeiten im Ort auf dem 50.000 Quadratmeter großen Produktionsgelände, dazu beschäftigt Wika weitere 8.000 Mitarbeiter unter anderem in Polen, den USA und China. Das Herz der Firma aber schlägt weiterhin zwischen Odenwald und Spessart. Warum in einer 6.500 Einwohner-Kleinstadt, 72 Kilometer von der nächstgelegenen Großstadt - Frankfurt - entfernt? "Einen Firmensitz kann man nicht einfach verlegen", sagt Wiegand, der mit seiner Familie in einem Nachbarort wohnt. "Das ist gewachsen, hier sind die Mitarbeiter." Außerdem biete der Standort viele Vorteile für alte und neue Beschäftigte: "Das ist eine landschaftlich sehr schöne Gegend. Die Lebensqualität ist hoch, die Lebenshaltungskosten sind niedriger als in den großen Städten." Wegen der guten Anbindung an das Rhein-Main-Gebiet müssten die Beschäftigten nicht zwangsläufig in Klingenberg wohnen. "Mitarbeiter, die ein städtisches Umfeld gewohnt sind, wohnen oft in Aschaffenburg. Die sind morgens mit dem Auto in 20 Minuten hier." Auch in die Frankfurter City sind es nur 30 Minuten.

So ist ein Arbeitsplatz bei Wika auch für hochspezialisierte Fachkräfte und Berufsanfänger attraktiv. "Aus unseren Befragungen unter Hochschulabsolventen wissen wir, dass Bewerber Familienunternehmen bei vielen Kriterien als erste Wahl wahrnehmen, zum Beispiel in puncto Arbeitsatmosphäre oder Karrieremöglichkeiten", sagt Stefan Heidbreder, Geschäftsführer der Stiftung Familienunternehmen. Sie veranstaltet zweimal im Jahr den "Karrieretag Familienunternehmen", um jungen Fach- und Führungskräften das Arbeiten in den hochmodernen Betrieben auf dem Land schmackhaft zu machen. Wichtige Argumente für einen Job bei einem "versteckten Weltmarktführer": die unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten höheren Reallöhne, vergleichsweise kürzere Entscheidungswege und bessere Aufstiegschancen. Das bestätigt auch Alexander Wiegand: "Wenn jemand eine gute Idee hat und mich davon überzeugt, dann geht das nicht erst durch 50 Gremien, sondern er oder sie kann morgen mit der Umsetzung anfangen." Wika ist mittlerweile der größte Arbeitgeber im Landkreis und bildet viele seiner Facharbeiter, etwa im Rahmen eines dualen Studiums, selbst aus.

Rund 300 Kilometer weiter östlich, im sächsischen Schöneck, kann Rainer Gläß eine ähnliche Erfolgsgeschichte erzählen. In der 3.100 Einwohner-Kleinstadt, wegen seiner Höhenlage gern als "Balkon des Vogtlands" bezeichnet, entwickelt seine Firma GK Software weltweit IT-Produkte für Handelsunternehmen wie Aldi und Walmart. 2008 schaffte "die GK", wie Gläß sie nennt, den Aufstieg zum einzigen börsennotierten Unternehmen mit Sitz in Sachsen. Von den knapp 1.500 Mitarbeitern arbeiten rund 400 in Schöneck. Doch nicht nur sie profitieren von dem erfolgreichen Unternehmen in ihrer Mitte: "Synergieeffekte gibt es auch für unsere Gewerbetreibenden wie Bäcker, Handwerker und Servicemitarbeiter", sagt Ute Dähn, Hauptamtsleiterin bei der Stadtverwaltung. "In letzter Zeit sind außerdem viele Baugrundstücke an junge Familien gegangen, die sich in Schöneck ansiedeln wollen."

In die Kleinstadt kommen wegen GK Informatiker aus ganz Deutschland und aller Welt. Gründer Rainer Gläß, der in Schöneck aufgewachsen ist und als Zwei-Mann-Unternehmen 1990 angefangen hat, findet das nicht ungewöhnlich. "Schöneck ist speziell, kein normaler ländlicher Ort", sagt Gläß. Es gebe ein Skigebiet, Mountainbike-Strecken, Vereine. "Das ist attraktiv, gerade für Leute, die bewusst eine andere Lebensumgebung außerhalb der Städte suchen." Er bemüht sich selbst um ein gutes Arbeitsumfeld für seine Mitarbeiter: Kollegen aus dem Ausland greift die GK unter die Arme bei Wohnungssuche oder Behördengängen. Im Firmensitz gibt es ein Fitnessstudio mit verschiedenen Trainern und einen Betriebskindergarten mit verlängerten Öffnungszeiten. Er hat einen Skilift bauen lassen und eine seit 30 Jahren brachliegende Betonmischanlage - in Kooperation mit lokalen Baufirmen und Handwerkern - zu einem Firmencampus mit modernsten Büros, öffentlichem Hotel und Restaurant umgebaut. "Gläß ist ein Lokalpatriot", sagt Ute Dähn. "Er könnte längst nach Berlin gehen, wo das Leben kracht, aber er ist hiergeblieben und hat immer neue Ideen."

Am Telefon gibt sich der umtriebige Unternehmer bescheiden. Auf sein großzügiges Engagement angesprochen, sagt er nur knapp: "Das ist eine Selbstverständlichkeit für einen Unternehmer." Ähnlich sieht das Alexander Wiegand. "Man möchte der Region etwas zurückgeben", sagt der Wika-Chef, der unter anderem einen örtlichen Handballverein und lokale Kulturveranstaltungen unterstützt, die Kinderkrippe und das örtliche Schwimmbad mitfinanziert hat.

Für die kleinen Gemeinden sind die unscheinbaren Weltmarktführer ein wahrer Schatz: "Herr Wiegand hat gerade erst mehrere Millionen Euro in den Standort investiert", berichtet Ralf Reichwein, Bürgermeister von Klingenberg. Wika beschere der Kleinstadt gute Steuereinnahmen und bringe Fachkräfte in die Region. Die Einwohnerzahl steige.

In einer von der Stiftung Familienunternehmen beauftragten Studie bestätigt das Institut der deutschen Wirtschaft diese Effekte. Danach nimmt die Einwohnerzahl in ländlichen Regionen mit vielen Familienunternehmen zu. Sie weisen einen höheren Wohlstand auf, haben höhere Ausbildungsquoten, niedrigere Arbeitslosenzahlen und sind innovativer.

Ab vom Schuss Doch Unternehmen im Ländlichen Raum haben auch mit besonderen Belastungen zu kämpfen. Beispielhaft nennt die Stiftung Familienunternehmen die schlechter ausgeprägte Infrastruktur, sowohl digital als auch beim Verkehr. Kooperationsmöglichkeiten mit Wissenschaftseinrichtungen seien schlechter realisierbar, die Ausstattung mit Gesundheits- und Daseinsvorsorge oft mangelhaft, was die Attraktivität für Fachkräfte mindere.

So hat Schöneck zwar ein Krankenhaus, mehrere Kindergärten und Schulen, liegt aber weit entfernt von der Autobahn. Für produzierendes Gewerbe zu sehr ab vom Schuss. "Die GK ist deshalb ein echter Glücksfall für uns", sagt Ute Dähn. Im Ort gebe es überwiegend kleinere Betriebe wie Handwerker oder Transportunternehmen.

Ein weiterer Minuspunkt ist der Mangel an Wohnraum und Baugrund. "Oft habe ich mehr neue Mitarbeiter, als in Schöneck neue Wohnungen gebaut werden. Da müssen wir dann nach Lösungen suchen", berichtet Gläß. Der Bürgermeister von Klingenberg, Ralf Reichwein, nennt das ein "Riesenproblem": "Wenn wir bauen, sind die Wohnungen schon verkauft und vermietet, bevor sie überhaupt fertig waren." Neue Firmen in bestimmten Größenordnungen könne er gar nicht erst ansiedeln. "Wir brauchen die wenigen Flächen, um erst mal unseren schon bestehenden Firmen Expansionsmöglichkeiten zu ermöglichen." Dabei zählt Kreativität: Alexander Wiegand hat gerade alte Bürogebäude abgerissen, um neue zu bauen - diesmal in die Höhe.

Auch Vernetzung ist ein großes Thema für die Champions auf dem Land. "Als technisches Unternehmen sind wir auf den Zugang zu neuen Technologien, auf Wissensaustausch mit Hochschulen und anderen Unternehmen angewiesen", sagt Wiegand. Entsprechende Cluster sind aber eher in den Ballungszentren zu finden, weshalb Eigeninitiative gefragt ist. "Wir tauschen uns regelmäßig mit anderen Firmen in der Gegend aus", erklärt Wiegand. Rainer Gläß hat in Schöneck ein IT-Cluster, den gemeinnützigen Verein Südwestsachsen Digital, aus regionalen Firmen, Universitäten und Hochschulen gegründet.

Die Firmenchefs haben beide noch große Ambitionen, GK und Wika sollen weiter wachsen. "Wir haben viele Ideen und neue Produkte am Start", sagt Gläß. Alexander Wiegand lässt gerade das Entwicklungszentrum in Klingenberg neu bauen. Für Bürgermeister Reichwein ein gutes Signal. "Er hätte das auf der grünen Wiese wohl günstiger umsetzen können. Aber er wollte unbedingt hier bleiben. Das stärkt die Stadt und die Region." Johanna Metz