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Interview : »Es braucht Machertypen«

09.08.2021
2023-08-30T12:39:40.7200Z
7 Min

Dörfer können der Perspektivlosigkeit trotzen, wenn sie Risiken nicht scheuen und offen sind für Veränderungen, meint der Regionalforscher Alistair Adam Hernández.

Dörfer können der Perspektivlosigkeit trotzen, wenn sie Risiken nicht scheuen und offen sind für Veränderungen, meint der Regionalforscher Alistair Adam Hernández.



Herr Adam Hernández, Bauernhäuser umgeben von Grün, gackernde Hühnern im Garten, ein Gasthaus, ein kleiner Lebensmittelladen - so stellen wir uns das beschauliche Dorfleben vor. Warum ist davon zunehmend weniger zu sehen?

Das Bild ist in Deutschland durchaus differenziert. Neben Dörfern mit leeren Ortskernen, die oft weiter entfernt von wirtschaftlich pulsierenden Zentren liegen, gibt es florierende ländliche Regionen, in denen typische Dorfstrukturen weitgehend erhalten sind. Entscheidend ist, ob es im Dorf oder seiner Umgebung Arbeitsplätze und gute Verdienstmöglichkeiten gibt. Das wird gerade in abgelegenen, sehr landwirtschaftlich geprägten Regionen zunehmend schwierig, weil dort durch die Mechanisierung von Landwirtschaft und Viehzucht immer weniger Leute gebraucht werden. Trotzdem stehen die deutschen Dörfer international vergleichsweise gut da.

Für Ihre Dissertation haben Sie Dörfer in Spanien, England und Deutschland auf ihre Fähigkeit zur stabilen Entwicklung hin untersucht. Wann ist denn nach Ihren Erkenntnissen ein Dorf zukunftsfest?

Wenn viele und sich einander bedingenden Faktoren zusammenkommen. In meinen Untersuchungsdörfern hing es stark mit der Fähigkeit zur Selbstorganisation zusammen. Also wenn das Dorf Dinge, die der Staat nicht leistet oder nicht mehr leisten kann, selbst in die Hand nimmt. Dazu kommt ein starker Gemeinsinn. Es sollte eine Willkommenskultur gegenüber neu Zugezogenen geben, mit Angeboten zur Mitwirkung, durch Vereine, Feste, gemeinsame Aktionen. Insgesamt ist die Fähigkeit zur Transformation ein wesentliches Element der Resilienz. Dafür braucht es Schlüsselpersonen, die bedeutsame Veränderungen für das Dorf aktiv vorantreiben.

Was sollten das für Leute sein?

Machertypen, die die Potenziale eines Ortes erkennen, konkrete Projekte anstoßen, eine Schnittstelle zwischen verschiedenen Akteuren bilden und keine Risiken scheuen. Aber auch Denkertypen, die eine positive Zukunftsvision entwickeln: Vielleicht kann man im Dorf Bioenergie erzeugen oder neue Wege in der Landwirtschaft gehen? Lohnt es sich, ein altes Gehöft zur Kulturscheune auszubauen, um Touristen anzuziehen? Kann der Ort gegebenenfalls sein handwerkliches Erbe neu bespielen? Um das herauszufinden, sollten alte und neue Bewohner in einen Dialog treten, am besten in einem konkreten Format mit professioneller Begleitung und Moderation. Ideen von vielen Beteiligten bilden die Komplexität immer besser ab, als wenn nur die Bürgermeisterin und zwei Ortsräte sich mit der Entwicklung des Dorfes beschäftigen.



Was macht das von Ihnen untersuchte Oberndorf im Kreis Cuxhaven zu einem resilienten Dorf?

Das Dorf liegt in einer Region, die stark mit Abwanderung und schwacher Infrastruktur kämpft. Die Bewohner, neue wie alte, haben sich damit aber nicht abgefunden. Sie haben im alten Dorfgemeinschaftshaus einen Treffpunkt geschaffen, die Kombüse 53 Grad Nord, eine Kulturkneipe, in der man essen, aber auch Konzerte und Lesungen besuchen kann. Außerdem gibt es eine Bürgergenossenschaft, regelmäßige "Hallo-Nachbar-Treffen" und eine freie Schule. Die Leute in Oberndorf sind unheimlich aktiv und sehr offen für Neues, auch wenn nicht jede Idee funktioniert: Die für eine Biogasanlage gegründete Aktiengesellschaft ging 2018 pleite.

Was haben Sie in England und Spanien beobachtet?

In England hat der Staat sich seit den 1970er Jahren stark aus der öffentlichen Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen zurückgezogen. Aus der Not haben viele Bewohner eine Tugend gemacht: In Wooler in der englischen Grafschaft Northumberland haben sie zum Beispiel eine Wohnungsbaugesellschaft gegründet und Fördermittel akquiriert, um leerstehende Immobilien zu sanieren. Sie haben so preiswerten Wohnraum und Gewerberäume geschaffen, die viele der rund 2.000 Einwohner als Gesellschafter bewirtschaften.

Ist das typisch für England oder nur ein besonders herausstechendes Beispiel?

Solche sozialunternehmerischen Initiativen sind häufig in England zu finden, genauso wie dort der Wohltätigkeitssektor sehr ausgeprägt ist. In Spanien ist die Lage anders. Hier hat die industrielle Revolution fast ausschließlich rund um Madrid und in den Küstengebieten stattgefunden. Es gibt außerdem viel zu wenig Dynamik auf dem Land, die Kommunalverwaltung ist finanziell und personell katastrophal aufgestellt. In der Folge hat die Hälfte der 5.800 Gemeinden heute weniger als tausend Einwohner, in der Mitte des Landes sind ganze Regionen entvölkert.

Droht auch hierzulande ein Verschwinden ganzer Dörfer?

Nein, eine völlige Entvölkerung ist in den vergangenen Jahrzehnten kaum zu beobachten. Zum einen, weil Deutschland viel dichter besiedelt ist. Zum anderen profitiert es von einer gut funktionierenden kommunalen Selbstverwaltung, bei der die Gemeinden weitgehend eigenständig über Personalfragen, Organisation, Finanzen, Planung und Rechtsetzung entscheiden können. Trotzdem ist ein hoher Leerstand auf Dauer eine Gefahr: Wenn zu viele Leute wegziehen, gibt es bald auch weniger Ärzte, weniger Geschäfte und weniger Schulen. Der öffentliche Nahverkehr und die digitale Infrastruktur werden noch langsamer ausgebaut, als das ohnehin der Fall ist. So entsteht ein Teufelskreis.

Der Investitionsbedarf hat sich vielerorts massiv aufgestaut. Was nutzen die besten Ideen, wenn sie am Ende nicht umgesetzt werden können, weil die Kommunen kein Geld haben?

Bund und Länder haben es in den vergangenen Jahrzehnten völlig versäumt, ausreichende Ressourcen für die Grundversorgung im strukturschwachen ländlichen Raum bereitzustellen. Diese strukturelle finanzielle Benachteiligung ist umso bemerkenswerter, weil die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Stadt und Land Verfassungsauftrag ist. In den strukturschwachen Regionen hängt alles am Geld. Die Dörfer brauchen dringend Investitionen - in den Breitbandausbau, die Mobilfunknetze, den öffentlichen Nahverkehr. Sonst geht die Abwärtsspirale weiter.

Welche Rolle kann dabei die kommunale Wirtschaftsförderung spielen?

Sie sollte neue Prioritäten setzen. Bisher werden die Mittel oft mit der Gießkanne in bestehende Wirtschaftseinrichtungen und Unternehmen geschüttet, anstatt Neugründungen oder innovative Geschäftsideen zu fördern. Das nutzt Dörfern, in denen es keine oder kaum Wirtschaftstätigkeit gibt, wenig bis nichts. In Schottland wurden spezielle Leadership-Programme aufgelegt, die Menschen im ländlichen Raum zu Produkt- oder Dienstleistungsinnovation animieren sollen und ihnen helfen, sie unternehmerisch umzusetzen. Das könnte ein Vorbild für uns sein. Deutschland braucht insgesamt eine mutigere und weniger bürokratisierte Förderpolitik, eine, die zu Gründungen und überregionalen Lösungsansätzen motiviert. Bislang setzen wir viel zu starke Anreize in Richtung der Städte.

In Städten leben aber rund 77 Prozent der Bevölkerung, sind Wirtschaftskraft und Steueraufkommen am höchsten. Ist da nicht nachvollziehbar, dass Investitionen vor allem dorthin fließen?

Wir sollten mal überlegen, wie viele Millionen wir in eine Infrastruktur gesteckt haben, die uns von den Dörfern in die Städte bringt. Darin liegt die oft Tragik der Wirtschaftsförderung: Wenn eine Gemeinde sich einen Autobahnanschluss erkämpft in der Hoffnung, dass sich dann Unternehmen ansiedeln, pendeln meistens noch mehr Menschen zum Arbeiten in die Stadt. Das ist ein Problem für die Infrastruktur und die Vereine im Dorf. Die Menschen sind kaum da, weil sie den ganzen Tag am Arbeitsort - oft in der Stadt - und im Auto verbringen.

Warum sind Investitionen in den ländlichen Raum auch wichtig für die Millionen von Menschen, die in den Städten wohnen?

Menschen brauchen Essen und Luft zum Atmen. Hätten wir keine Katastrophenschützer und Wasserwerksmitarbeiter auf dem Land, wäre eine Stadt wie Hamburg ständig überschwemmt. Auch unser kulturelles Erbe befindet sich größtenteils auf dem Land. Stadt und Land gehören untrennbar zusammen. Es gilt diese Verbindungen zu erneuern und zu stärken.

Viele Städter renovieren alte Bauernhäuser auf dem Land und wollen zumindest zeitweise raus ins Grüne. Die Corona-Pandemie scheint diese "Landlust" noch verstärkt zu haben. Eine Chance für ein Comeback vieler Dörfer?

Da ist sicher ein Trend erkennbar. Immer mehr Menschen haben einen negativen Eindruck vom Leben in der Stadt - sie empfinden es als zu anonym, zu dreckig, zu laut, zu teuer. Das Versprechen, sich als Mensch zu fühlen, wird in der Stadt meiner Ansicht nach auch hauptsächlich durch Konsum erfüllt. Ich erwerbe etwas, buche mir ein Erlebnis. Das Korsett des Landes ist viel offener. Es bietet größere Freiräume und mehr Möglichkeiten, sich gesellschaftlich einzubringen. Viele entdecken auf dem Land alte Handwerkstechniken neu, erschaffen etwas mit ihren eigenen Händen, im Einklang mit der Natur. In Zukunft lässt sich das vielleicht auch besser mit dem Job in der Stadt verbinden. In der Pandemie haben viele Arbeitnehmer gute Erfahrungen mit dem Home Office gemacht.

In hunderten von Dörfern gibt es aber keinen Internetanschluss, weil es sich für die Anbieter nicht lohnt, sie ans Netz anzubinden.

Ohne digitale Infrastruktur ist ein Dorf heute quasi weg von der Landkarte. Hier muss der Staat mehr Hilfe zur Selbsthilfe zur Verfügung stellen und Bürgerinitiativen unter die Arme greifen. Als steuernde Instanz sollte der Bund außerdem feste Vorgaben für übergeordnete Ziele wie Klima- und Naturschutz oder Wohnungsbau machen. Die zentrale Verantwortung bleibt aber bei den Kommunen und Akteuren vor Ort. Im Rahmen von professionell geführten Beteiligungsprozessen gilt es, ökonomische, ökologische und soziale Belange geschickt auszutarieren, damit das Dorf wieder zu neuem Leben erwacht.



Das Gespräch führte

Johanna Metz.