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Ländlicher Raum : Orte der Sehnsucht

Corona hat die Landlust verstärkt. Offen ist, wer davon profitiert

09.08.2021
2023-08-30T12:39:40.7200Z
5 Min

Das Ländliche ist immer Sehnsuchtsort gewesen. In der Antike, bei Astrid Lindgren und ihrem Bullerbü, in zeitgenössischen Werken von Juli Zeh bis Robert Seethaler - um nur von der literarischen Dimension zu sprechen. Wie viel diese Projektionen individueller Idealvorstellungen mit der Wirklichkeit zu tun hatten, sei dahingestellt - ohnehin ist ein Leben auf dem Lande für viele meist eine im kindlichen Stadium verharrende Träumerei geblieben, während sich das reale Alltagsleben in urbanen Räumen abspielt.

Die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Folgen indes haben Visionen von einem anderen Leben einen neuen Schub gegeben. Eingepfercht in die Enge der Stadt fanden zunehmend Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen ein Leben in der Nähe zur Natur, mit Platz, Entschleunigung und verbindlichen Sozialkontakten so erstrebenswert, dass es konkret werden sollte: Der Sparda-Studie "Wohnen in Deutschland 2021" zufolge hat nahezu jeder fünfte Mieter während der Pandemie über eine räumliche Veränderung nachgedacht. Begründet haben die Menschen ihre Umzugswünsche zuletzt mit mehr Platz (42 Prozent), einer schöneren Wohnumgebung (55 Prozent) und einem größeren Garten oder Balkon oder schnellerem Internet (44 Prozent) - alles also, was mit Ausnahme von letzterem Aspekt eher auf dem Land zu vermuten ist als im verdichteten urbanen Raum. Die neuen Möglichkeiten, mehr von Zuhause als immer nur im Büro erledigen zu können, haben den Arbeitsweg und seine Dauer außerdem bedeutungsloser werden lassen.

Doch was bedeutet dieser Drang der Städter zum Dörflichen für die Menschen im Ländlichen Raum? Die Suche nach Antworten auf diese Frage gestaltet sich schon deswegen schwierig, weil es den Ländlichen Raum so gar nicht gibt. Dem Thünen-Landatlas zufolge lebten zuletzt 57 Prozent der Bevölkerung in "sehr" und "eher" ländlichen Räumen - soweit die Theorie. Doch kann der Bewohner eines abseits gelegenen Bergdorfes seine Lebensumstände mit denen einer Speckgürtelbewohnerin vergleichen, die täglich mit der S-Bahn in die nächstgelegene Stadt zur Arbeit pendelt? Steht eine Familie in einer peripher gelegenen Siedlung, in der der nächste Supermarkt 20 Kilometer entfernt liegt, vor den gleichen Herausforderungen wie ein Ehepaar in einer beschaulichen Gemeinde, die selbst Schwarmstadt für die umliegenden Dörfer ist? Wohl schwerlich. Das Land ist so vielfältig, wie es die darin wohnenden Menschen sind, die Landschaften, die Prägungen der Geschichte.

Speckgürtel profitieren Zahlen zeigen, dass von der neuen Landlust der Deutschen vor allem die Speckgürtel profitieren. Die Sparda-Banken, die ihre jährliche Analyse zusammen mit dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln und dem Institut für Demoskopie Allensbach erstellt haben, bilanzieren, dass quasi überall die Preise im Umland von Metropolen stärker angezogen haben als in den Kernstädten selbst. In peripheren Räumen mit schlechter Anbindung sieht die Lage schon ganz anders aus. Dabei sind es gerade sie, die Impulse brauchen könnten, nachdem in den vergangenen Jahrzehnten viele jüngere Menschen abgewandert sind - und mit ihnen die, die Innovationen anstoßen, Ehrenämter übernehmen, Mehrwert schaffen. Und selbst auf dem abgeschieden gelegenen Land gleicht selten genug eine Herausforderung der anderen; mal reicht schon ein lokal verankertes Unternehmen mit Weltruf, um eine ganze Gegend in Optimismus zu versetzen, mal bluten Orte aus, obwohl es noch Bahnverbindungen, Schule und Nahversorger gibt.

Mehr noch als in der Stadt hängen die Perspektiven auf dem Land von Menschen ab, die Macher sind, Initiativen ergreifen, sich Neues und Ungeübtes zutrauen. Sie können nicht nur konkrete Verbesserungen anstoßen, sondern zu Vorbildern werden, die Kreise ziehen. Auch deswegen sind junge Menschen, die nach ihrer Ausbildung zurück in die alte Heimat ziehen und dort etwas aufbauen, so wichtig. Auch deswegen können gelungene Bündnisse zwischen erfahrenen Alteingesessenen und Zuzüglern mit frischen Ideen die Lebenssituationen in Orten spürbar verändern.

Gleichwertigkeit Doch auch die Politik hat sich mit den Herausforderungen unterschiedlicher Lebenswelten in Deutschland auseinandergesetzt und sie nicht zuletzt in einer Kommission zur Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen thematisiert. Die Aufgaben sind gewaltig - schon ein gemeinsames Verständnis von Gleichwertigkeit dürfte ähnlich schwierig zu finden sei wie eine einheitliche Definition von "ländlicher Raum". Eine Verbesserung der Rahmenbedingungen birgt so viele Aspekte, dass Überblick und Anfang schwierig werden: Vielerorts fehlen zufriedenstellende Internetverbindungen als Basis für wirtschaftliche Entwicklung oder die Möglichkeit, am Wohnort arbeiten zu können. Bahnstrecken sind stillgelegt, Außenstellen von Hochschulen geschlossen, Ämter in Städten zentralisiert worden. Halte ich die Schule offen, in der Hoffnung auf neue Familien, oder schließe ich sie, um Kosten zu sparen? Wer stemmt die Kosten, wenn grundlegende Infrastruktur auf immer weniger Haushalte umgelegt werden muss? Ist es Menschen zuzumuten, den Lebensmitteleinkauf zum Halbtagesausflug werden zu lassen? Es sind Fragen, die sich auf politischer Ebene mit Diskussionen darüber fortsetzen, welche Ebene - Bund, Länder und Kommunen - welche Aufgaben übernimmt und wer sie bezahlt.

Die Antworten darauf gestalten sich so herausfordernd, dass eine Beschäftigung mit ihnen lange verschleppt wurde. In der Zwischenzeit haben sich die prosperierenden Regionen selbst geholfen, und den abgehängten ist die Stimme versagt. Der durch die Pandemie ausgelöste Druck auf die Lebenswelten könnte dazu beitragen, dass es nun schneller um umsetzbare Konzepte geht, deren Entwicklung überprüft und deren Erfolg gemessen wird.

Genaueres Hinschauen Vielleicht ziehen die jüngst durcheinandergeschüttelten Lebenswelten zudem eine Auseinandersetzung mit dem Land jenseits idyllischer Utopien nach sich. Und das bedeutet eben nicht nur, dass Städter nach dem zehnten fehlgeschlagenen Download-Versuch erfahren, dass vernünftiges Internet keine Selbstverständlichkeit in Deutschland ist. Oder dass der Traum von ländlicher Stille nur da funktionieren kann, wo wirklich keine Zukunft mehr wartet - überall woanders wird nämlich tagsüber lautstark gearbeitet.

Es bedeutet auch, dass ein genaues Hinschauen lohnt. Wovon träumen denn Menschen, die auf dem Land leben? Was macht für sie ein "gleichwertiges" Leben aus? Welche Alltagsaspekte betrachten sie tatsächlich als Problem - und wie gehen sie dessen Lösung an?

Im Ländlichen schlummert womöglich manches Innovationspotenzial, das fürs Urbane als Vorbild dienen könnte. Hier haben Menschen Ideen entwickelt, die für andere Gegenden mit ähnlichen Herausforderungen Impulse geben. Auch ohne Zuzug von außen wandeln sich Lebenswelten auf dem Land, nur geraten solche Veränderungen weniger ins Schlaglicht als Strömungen in Ballungsräumen.

Sicherlich kristallisieren sich dabei Orte heraus, an deren Abgehängtsein sich kaum mehr rütteln lässt - aber bestimmt auch Nischen und Räume, die überraschen, Respekt hervorrufen und die Lust machen auf ein Miteinander auf Augenhöhe. In denen sich Menschen finden, die in ihrer und für ihre Umgebung Zukunft gestalten.

Seitenblicke Einige Seitenblicke wagt diese Ausgabe, mit Blick auf Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Infrastruktur und Kultur; sei es, wenn es um originelle Ideen zur Sicherung der Daseinsvorsorge geht, um Modelle gegen die Ödnis in Ortsmitten oder um die Bedeutung von "hidden champions" in der Provinz. Ob und in welcher Form ein Lebensmodell auf dem Land für den Einzelnen dann erstrebenswert scheint, mag jede und jeder für sich selbst entscheiden. Die Chancen, sich ernsthaft mit den unterschiedlichen Lebenswelten in Deutschland auseinanderzusetzen, stehen jedenfalls so gut wie lange nicht.