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Afghanistan : Ruf nach Antworten

Nach Ende der Evakuierungen bleiben Tausende Ortskräfte und andere Schutzbedürftige im Land zurück. Die Fraktionen fordern Aufklärung, wie es dazu kommen konnte

30.08.2021
2023-08-30T12:39:40.7200Z
5 Min

Am Abend des 26. August um 18.20 Uhr ist der größte Evakuierungseinsatz in der Geschichte der Bundeswehr beendet. Wohlbehalten landeten die letzten am Kabuler Flughafen stationierten deutschen Soldaten und Soldaten in der usbekischen Hautpstadt Taschkent, wo sie Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) spürbar erleichtert empfing. Bereits am nächsten Tag kehrten sie nach Deutschland zurück. "Die Evakuierungsoperation war hochgefährlich. Die Bundeswehr hat unter schwersten Bedingungen vor Ort so viele Menschen wie möglich in Sicherheit gebracht", erklärte das Ministerium auf Twitter.

Die elftägige Afghanistan-Mission endete unter dramatischen Umständen. Wenige Stunden, bevor die letzten Maschinen starteten, griffen Selbstmordattentäter der Terrormiliz "Islamischer Staat" an einem der Flughafentore an, vor dem Tausende darauf warteten, einen Platz in einem Evakuierungsflug zu bekommen. Mindestens 85 Menschen - 72 Zivilisten und 13 US-Soldaten - kamen ums Leben, seit Tagen hatte die Geheimdienste vor der wachsenden Terrorgefahr gewarnt.

Nun schließt sich das Zeitfenster für die Rettung der im Land Verbliebenen stündlich. Wenn die Amerikaner Afghanistan zum Monatsende verlassen, können Deutschland und andere Verbündete den Flughafen nicht allein schützen. Auch andere Nationen haben ihre Evakuierungsflüge daher vergangene Woche eingestellt.

Was aber wird nun aus den Helfern der westlichen Truppen, die Racheaktionen der radikalislamistischen Taliban fürchten müssen? Zwar hat die Bundeswehr seit dem 17. August mehr als 5.300 Menschen retten können, darunter mehr als 4.000 ehemalige Ortskräfte der Bundeswehr und besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen wie Journalisten und Menschenrechtsaktivisten. Dem Auswärtigen Amt zufolge befinden sich aber noch etwa 300 Deutsche sowie rund 10.000 Ortskräfte oder anderweitig Schutzbedürftige im Land. In Verhandlungen mit den Taliban will die Bundesregierung erreichen, dass auch sie ausreisen können - Ausgang ungewiss.

Die Bundesregierung sieht sich mit unangenehmen Fragen konfrontiert. Warum hat sie die Ortskräfte nicht schon früher in Sicherheit gebracht? Und warum nahm der 20 Jahre währende Afghanistan-Einsatz überhaupt ein so ruhmloses Ende? Erst im April hatte US-Präsident Joe Biden den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan bis zum 11. September angekündigt, woraufhin auch die Bundesregierung umgehend den Rückzug der Bundeswehr eingeleitet hatte. Die Taliban eroberten derweil Gebiet um Gebiet, am 15. August standen sie im Zentrum von Kabul.

Koalition und Opposition waren sich vergangene Woche im Bundestag einig, dass es in der kommenden Legislaturperiode eine parlamentarische Untersuchung zu den Ereignissen geben muss. In der Bild-Zeitung stellte die Vorsitzende des Innenausschusses, Andrea Lindholz (CSU) klar: "Niemand wird sagen, dass wir ohne Aufarbeitung hier rauskommen."

Die Opposition attackierte die Afghanistan-Politik der Bundesregierung in der Sondersitzung des Parlaments am vergangenen Mittwoch scharf. Sie forderte wegen des Umgangs mit den Ortskräften auch personelle Konsequenzen. Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch sprach vom "schwärzesten Punkt" in der 16-jährigen Kanzlerschaft von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und urteilte, "die, die daran beteiligt waren, sollten nie wieder Mitglieder einer Bundesregierung sein". Die "Politik, Soldaten letztlich ohne Strategie in Einsätze zu schicken", bezeichnete er als gescheitert.

Unterstützung Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock sagte: "Wenn wir unserer Verantwortung hier als Bundestag nur mit einem kleinsten Ansatz gerecht werden wollen, müssen wir dieses Desaster jetzt aufklären und dürfen es nicht schönreden." Sie forderte die Einberufung eines Afghanistan-Gipfels, um mit allen Nato- und Anrainerstaaten über die weitere Unterstützung Afghanistans zu reden.

FDP-Fraktions- und Parteichef Christian Linder verlangte "großzügige und pragmatische Lösungen für diejenigen, die unserer Bundeswehr und den Hilfsorganisationen loyal zur Seite gestanden haben". Die Bundesregierung müsse sich außerdem umgehend für eine europäische Afghanistan-Politik einsetzen. Flüchtenden sollte "so schnell wie möglich und der Heimat so nah wie möglich" Sicherheit geboten werden. "Das ist eine europäische Aufgabe."

Vor einer neuen Flüchtlingswelle nach Deutschland und Europa warnte die AfD. Die Zahl der Einheimischen,die tatsächlich loyal für die Bundeswehr gearbeitet hätten, bewege sich im unteren vierstelligen Bereich, erklärte Fraktionschef Alexander Gauland unter Berufung auf die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen aus dem Jahre 2018. "Diesen Menschen und ihren Familien können und wollen wir Asyl geben, aber niemandem darüber hinaus", stelle er klar. Gauand bezeichnete den Afghanistan-Einsatz insgesamt als gescheitert. Wer glaube, "man könne tiefe, ethnisch kulturelle Prägungen mit Aufklärungskursen und Gender-Mainstreaming therapieren, bezeugt nur eine monströse Ignoranz."

Zahlreiche Redner richteten den Blick auch über Afghanistan hinaus. So forderte Gabriela Heinrich (SPD) die Einrichtung einer Enquetekommission, in der "wir uns intensiv mit unseren Zielen bei Auslandseinsätzen und auch mit der Zielrichtung unserer Entwicklungspolitik auseinandersetzen". Zu Beginn der Sitzung hatte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) an die Notwendigkeit appelliert, "im Bündnis schnell überzeugende Antworten zu finden, wie wir künftig unseren universellen Werten Geltung in der Welt verschaffen wollen". In Afghanistan sei die Staatengemeinschaft mit dem Anspruch, das Land "nach unseren Vorstellungen und Werten umzugestalten" gescheitert.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gab sich in ihrer vermutlich letzten Regierungserklärung selbstkritisch: "Wir alle zusammen, die wir in Afghanistan engagiert waren, haben die Geschwindigkeit dieser Entwicklung offensichtlich unterschätzt." Vielleicht, fügte sie hinzu, "waren unsere Ziele zu ehrgeizig". Sie versprach, die Bundesregierung werde alles tun, um Erreichtes zu bewahren und auch nach Ende der Evakuierungsoperation Afghaninnen und Afghanen zu schützen.

Trotz der rasanten Machtübernahme durch die Taliban zeigte Merkel sich überzeugt, "dass die internationale Gemeinschaft in den letzten 20 Jahren in Afghanistan auch Gutes bewirkt hat". Hinsichtlich des Vorwurfs, die Bundesregierung hätte die Ortskräfte früher evakuieren müssen, sprach die Kanzlerin von einem "Dilemma". Sie habe noch vor einigen Wochen gute Gründe dafür gesehen, den Menschen in Afghanistan nach dem Abzug der Truppen wenigstens in der Entwicklungszusammenarbeit weiter zu helfen, wofür man auf die Ortskräfte angewiesen sei.

Zustimmung zu Mandat Der Bundestag billigte im Anschluss an die Debatte nachträglich den laufenden Evakuierungseinsatz der Bundeswehr. Möglich war das durch eine Sonderregelung im Parlamentsbeteiligungsgesetz (siehe Stichwort). Für den von der Bundesregierung am 18. August vorgelegten Antrag (19/32022) stimmten in namentlicher Abstimmung 539 Abgeordnete, darunter die Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und FDP und fünf Abgeordnete der Linksfraktion. Die neun Nein-Stimmen und 90 Enthaltungen kamen aus den Reihen von AfD und Linken - es war das erste Mal, dass die Mehrheit der Linksfraktion einen Bundeswehreinsatz nicht ablehnte.