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MEDIEn : Verstehen Sie Chat?

Tweeten, faven, blocken - wie Soziale Netzwerke die öffentliche Sprache verändern und was Luthers Flugschrift damit zu tun hat

30.08.2021
2023-08-30T12:39:41.7200Z
5 Min

Schreib mal wieder!", appellierte 1982 ein Slogan der Bundespost an die Bürger, die immer häufiger statt zum Stift zum Telefonhörer griffen. Knapp 40 Jahre später wird so viel geschrieben wie nie zuvor in der Sprachgeschichte. Allerdings sind es nicht handgeschriebene Briefe und Karten, sondern getippte Digitalnachrichten, die über WhatsApp, Facebook, Twitter und andere Online-Dienste verschickt werden. Zwei Milliarden Nutzer weltweit verzeichnete allein der Spitzenreiter WhatsApp im vergangenen Jahr, 58 Millionen davon in Deutschland.

Die ersten geschriebenen Online-Konversationen fanden in Deutschland bereits Ende der 1980er Jahre unter dem Namen "Telebox-Kommunikation" statt. Die Pioniere von damals schickten einander über die Telefonleitung per Akustikkoppler und Modem Botschaften auf die Computerbildschirme, deren Stil mit "grias di", "mompls (= Moment please)" "AAAARGHH!" oder "bis demnxt" den digitalen Schreibdialogen von heute schon recht nahe kam. Einen enormen Schub und eine Fülle neuer Akronyme und Abkürzungen brachten von den 1990er Jahren an die entstehenden Internetforen und der mobilfunkgestützte SMS (Short Message Service). Das "Simsen" - 2001 von der Gesellschaft für deutsche Sprache zu den Wörtern des Jahres gezählt - hat inzwischen Patina angesetzt, WhatsApp und andere Dienste haben ihm den Rang abgelaufen.

In der Politik und den Medien riefen die neuen Sprachtrends ein geteiltes Echo hervor. Wo die einen kreative Innovation begrüßten, sahen die anderen Symptome des Sprachverfalls. Das Deutsche werde zu einer versimpelten "Recycling-Sprache", warnte 2012 der Vorsitzende des Rates für deutsche Rechtschreibung und frühere bayerische Wissenschaftsminister Hans Zehetmair (CSU).

Inzwischen hat sich die einst bestaunte oder bekrittelte Mischkultur aus Schriftlichkeit und Mündlichkeit, aus Slang, Dialekt, Akronymen und Bildsymbolik dauerhaft etabliert. Die millionenfachen Schreibdialoge haben eigene Normen der Informalität hervorgebracht. Deshalb existieren auch Abkürzungen (vllt), Verschleifungen (aufm) und hybride Formen (gute N8) immer noch, obwohl technische Begrenzungen oder der Wunsch nach Kostenersparnis bei der Datenübertragung heute keine Rolle mehr spielen. Die "Stummelformen" sind längst Teil eines standardisierten Nicht-Standards für den schnellen dialogischen Austausch geworden.

Erweiterungen von Sprache Dass dieses Deutsch nicht einfach geschriebenes Sprechen ist, wird besonders augenfällig an den vielen Hundert Emojis (e=Bild, moji=Buchstabe), die es mittlerweile gibt. Ihre bunte Vielfalt hat das piktoriale Schreiben, das mit den selbstgebastelten Emoticons begann, enorm verstärkt (siehe Text unten). In vielen Chats übernehmen Emojis auch die Interpunktion, indem sie Textabschnitte gliedern. Satzzeichen werden stattdessen umfunktioniert, um Stimmungen auszudrücken. So fehlt zum Beispiel am Ende von digitalen Nachrichten häufig der Punkt, aber dafür signalisiert er nun an anderen Stellen ein emotionales Spektrum, das von Entschiedenheit ("Hallo. Eine eindeutige Ansage bitte.") bis zur gereizten Ablehnung ("Nee. Sorry.") reicht.

Blickt man in das Ursprungsland der Emojis, nach Japan, findet sich noch eine neue Art von Bildzeichen: Die Kaomoji ("Gesichtsschriftzeichen" ) werden hauptsächlich aus Sonderzeichen sowie aus der japanischen Silbenschrift Katakana und anderen Schriftzeichen zusammengesetzt. Die Abfolge (>_<) beispielsweise steht für Scham, während (^_^) eine Form von Freude ausdrückt. Ihre große Variabilität macht die Kaomoji sehr populär

Auch wenn die Chatsprache mittlerweile nicht mehr der große Aufreger ist - ihre möglichen Auswirkungen auf das klassische Schriftdeutsch, das ja immer noch die Leitnorm darstellt, beschäftigen Pädagogen und Bildungspolitiker nach wie vor. Können Jugendliche, die in den sprachlichen Parallelwelten der Smartphones aufwachsen, überhaupt noch einen korrekt geschriebenen Aufsatz, einen präzisen Bericht, ein grammatikalisch einwandfreies Bewerbungsschreiben verfassen? Tatsächlich haben die orthographischen Fähigkeiten der Schüler und ihre Beherrschung der standardsprachlichen Grammatik in den vergangenen Jahrzehnten im Schnitt nachgelassen. Das zeigen Langzeitstudien, die die Entwicklung seit den 1970er Jahren verfolgen.

Allerdings setzte die Verschlechterung schon ein, bevor Handy und Internet ihren Siegeszug antraten. Ein Grund liegt im Deutschunterricht vieler Schulen, wo weniger Wert als früher auf "harte" Kompetenzen wie Rechtschreibung, Interpunktion und Grammatik gelegt wird. Hinzu kommt schon seit den 1990er Jahren ein Trend zu einem informelleren, ins Mündliche spielenden Stil, der einer allgemeinen Lockerung gesellschaftlicher Konventionen geschuldet ist. Die Vermutung, dass die Allgegenwart der Chat-Kommunikation diese Tendenzen verstärkt und die Bedeutung schriftsprachlicher Korrektheit in den Augen jüngerer Leute weiter mindert, liegt nahe. Es gibt einzelne linguistische Studien, die diese Annahme bestätigen; andere hingegen zeigen, dass Jugendliche zwischen den sprachlichen Welten des Smartphone-Geplauders und der formellen Kommunikation durchaus zu trennen wissen. Auch der schulische und soziale Hintergrund spielt hier eine Rolle. Doch solange umfassende Untersuchungen zum aktuellen Stand fehlen, ist das Gesamtbild unklar.

Auch bei Plattformen wie Twitter oder Facebook sind Normverstöße ein großes Thema. Allerdings geht es hier weniger um Regeln der Rechtschreibung oder Grammatik, als um die des zivilisierten Umgangs. Anders als bei WhatsApp ist die Kommunikation in diesen Netzwerken meistens öffentlich, sie dient oft der politischen Positionierung und der Ton kann sehr rau werden. Insbesondere Twitter fördert mit seiner Begrenzung der Zeichenzahl auf 280 pro Kurznachricht - früher waren es sogar nur halb so viele - einen plakativen Stil und die polemische Zuspitzung. Zwar wird der Kurznachrichtendienst auch zum sachlichen Austausch von Informationen und Meinungen genutzt, doch oft dominiert der gehässige Schlagabtausch.

Kampf um Aufmerksamkeit Große Teile der Twitter-Gemeinde organisieren sich in Filterblasen durch Abschottung nach innen und eskalierende Konfrontation nach außen: Man bildet Empörungsgemeinschaften, die sich über andere Empörungsgemeinschaften empören. Die Atmosphäre der Dauergereiztheit befeuert eine Überbietungsrhetorik, die immer wieder in Pöbeleien, Diffamierungen und Verleumdungen mündet. Ein harmloses Zitat kann, aus dem Zusammenhang gerissen und böswillig interpretiert, eine unversöhnliche Inter-netmeute auf den Plan rufen und einen Shitstorm entfesseln. Welch demagogische Wirkung Tweets entfalten können, zeigte exemplarisch der ehemalige US-Präsident Donald Trump, den die Twitter-Chefs Anfang des Jahres von ihrer Plattform verbannten. Der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck hingegen verließ den Kurznachrichtendienst aus eigenem Antrieb. Der spaltende und polarisierende Stil der Plattform habe begonnen, auf ihn abzufärben, lautete seine Begründung.

Nun sind Verbalinjurien im politischen Geschäft nichts Neues: Habecks Parteifreund Joschka Fischer redete 1984 den Bundestagsvizepräsidenten Richard Stücklen (CSU) als "Arschloch" an und auch "Urgesteine" wie Herbert Wehner (SPD), Franz Josef Strauß (CSU) und Willy Brandt (SPD) gaben den parlamentarischen Auseinandersetzungen der alten Bundesrepublik eine derbe Note. Doch solche Ausfälligkeiten blieben auf einzelne Personen und Situationen beschränkt. In Sozialen Medien hingegen sind Schmähungen, Stigmatisierungen und Hassreden zum Massenphänomen geworden. Wer eine Parallele dazu sucht, muss zurückgehen bis zur Zeit Martin Luthers, deren öffentliche Sprache von Invektiven getränkt war.

Parallelen zum Flugblatt Der größte Polterer vor dem Herrn war der Reformator selbst, der gegen des "Teufels Sau", den Papst, zu Felde zog und dafür von seinen katholischen Feinden als "geiferndes Eberschwein" tituliert wurde. Zeitgenössische Illustrationen zeigen die umgedrehte Papstkrone als Abort, Spottprozessionen führten Pferdeschädel als Heiligenreliquien mit. Das damals neue Medium der gedruckten Flugschrift beflügelte die Drastik der Beschimpfungen. Es ermöglichte anonyme Angriffe aus der Distanz, die sich schnell verbreiteten. Die Ähnlichkeiten mit der aggressionsfördernden Dynamik heutiger Internetplattformen sind nicht zu übersehen, auch wenn die Druckpressen noch nicht die Rasanz digitaler Eskalationen erzeugen konnten. Als die Schmähstürme der frühen Neuzeit tobten, trennte man noch nicht zwischen den Normen privater und öffentlicher Kommunikation. Erst in der Aufklärungszeit entstand "Öffentlichkeit" als ein Raum, in dem kritische Auseinandersetzungen nach den Regeln des rationalen Diskurses verlaufen. Die digitalen Shitstorms der Gegenwart drohen diese Errungenschaft wieder hinwegzufegen.