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Grundrechte : Schmerzhafte Eingriffe

Im Kampf gegen die Corona-Pandemie hat die Politik Freiheiten eingeschränkt. Zu stark, finden viele.

22.11.2021
2024-03-14T14:18:21.3600Z
6 Min

Als am 27. Januar 2020 das bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege über den ersten bestätigten Covid-19-Fall in Deutschland informierte, hätte sich wohl niemand vorstellen können, welch dramatischen und langanhaltenden Auswirkungen das Coronavirus auf den Alltag der Menschen in der Bundesrepublik haben würde. Tags darauf rief Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) noch "zu einem Stück Gelassenheit" auf: Für "übertriebene Sorge" gäbe es keinen Grund. "Die Gefahr für die Gesundheit der Menschen in Deutschland durch diese neue Atemwegserkrankung aus China bleibt nach unserer Einschätzung weiterhin gering", sagte Spahn. Knapp einen Monat später meldeten Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen ihre ersten nachgewiesenen Fälle. Am 10. März 2020 verzeichnete Sachsen-Anhalt als letztes Bundesland seinen ersten Corona-Fall.

Foto: picture-alliance/photothek/Florian Gaertner

Protest gegen die Änderung des Infektionschutzgesetzes am 18. November 2020 in Berlin. Während das Parlament über die Gesetzesänderung abstimmt, demonstrieren Tausende vor dem Bundestag.

Am 12. März 2020 beriet Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) das erste Mal mit den Regierungschefs der Länder über die Corona-Lage. Sie vereinbarten, dass die Krankenhäuser - soweit medizinisch vertretbar - grundsätzlich alle planbaren Aufnahmen, Operationen und Eingriffe auf unbestimmte Zeit verschieben und aussetzen sollten, um sich auf die erwartbar steigende Anzahl von Covid-19-Patienten zu konzentrieren. Außerdem sollten alle Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Teilnehmern abgesagt werden. In Regionen und Bundesländern mit einem sich abzeichnenden dynamischen Ausbruchsgeschehen sei zudem die Verschiebung des Semesterbeginns an den Universitäten sowie die vorübergehende Schließung von Kindergärten und Schulen "eine weitere Option".

Dieses Treffen war der Auftakt einer ganzen Reihe von Bund-Länder-Konferenzen in den folgenden Monaten, mit denen eine nationale Pandemiebekämpfung auf föderaler Grundlage ermöglicht werden sollte. Da sich die Treffen in einem außerinstitutionellen Raum bewegten, hatten die dort gefassten Beschlüsse zwar keine formalrechtliche Bindekraft, sondern nur den Charakter einer politischen Absichtserklärung. Sie mussten also noch in Gesetze oder vor allem in Verordnungen übertragen werden. Aber das änderte nichts daran, dass die Vereinbarungen mitunter weitreichend und einschneidend waren.

Stilllegung des öffentlichen Lebens

Die Dynamik und Dramatik der Corona-Pandemie mit ihren inzwischen fast 100.000 Toten in Deutschland lässt sich nicht zuletzt an den vielen Gesetzen und Verordnungen ablesen, die im Zusammenhang mit Covid-19 bislang verabschiedet worden sind. Allein auf Bundesebene sind es mehr als 30 Gesetze und mehr als 50 Verordnungen.

Am 16. März 2020 verständigte sich die Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten auf eine weitgehende Stilllegung des öffentlichen Lebens: Unter anderem Clubs, Kneipen, Kinos und Theater, aber auch zum Beispiel Messen, Ausstellungen, Spezialmärkte, Spielhallen sowie "Prostitutionsstätten" mussten schließen. Untersagt wurde auch der komplette Sportbetrieb sowie Zusammenkünfte in Kirchen, Moscheen, Synagogen und den Häusern anderer Glaubensgemeinschaften - ein einmaliger Einschnitt in das religiöse Leben in Deutschland.

Bundesländer setzen Vereinbarung unterschiedlich streng um

Keine Woche später folgte der nächste Grundrechtseingriff: "Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist nur alleine, mit einer weiteren nicht im Haushalt lebenden Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen Hausstands gestattet", beschloss die Bund-Länder-Runde am 22. März 2020. Einige Länder gingen in der Umsetzung der Vereinbarung sogar noch einen Schritt weiter und ordneten statt einer Kontakt- gleich eine Ausgangsbeschränkung an. Im Falle Bayerns sah der Bayerische Verwaltungsgerichtshof darin allerdings einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und erklärte am 4. Oktober 2021 nachträglich die Verordnung für unwirksam. Die bayerische Staatsregierung geht dagegen in Revision vor das Bundesverwaltungsgericht.

Nach dem Infektionsschutzgesetz liegt die Kompetenz für die Entscheidung über Schutzmaßnahmen zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten bei den Ländern. Das Gesetz ermächtigt sie, unter bestimmten Voraussetzungen Rechtsverordnungen zu erlassen, mit denen selbst grundgesetzlich garantierte Freiheitsrechte temporär eingeschränkt werden können, und zwar konkret die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit der Person, der Freizügigkeit, der Versammlungsfreiheit, der Unverletzlichkeit der Wohnung und des Brief- und Postgeheimnisses. Dabei agierten die Länder zu Beginn der Corona-Pandemie noch auf einer recht vagen Rechtsgrundlage, weil sie sich noch auf eine Generalklausel stützen mussten und nicht eindeutig definiert war, unter welchen Umständen welche Maßnahmen ergriffen werden dürfen.

Erst Mitte November 2020 sorgte der Gesetzgeber durch eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes für eine Klärung. Der Bundestag beschloss einen Katalog an "notwendigen Schutzmaßnahmen", die für die Dauer der "Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite" zu Anwendung kommen können. Die achtzehn Maßnahmen umfassende Liste reichte von der Anordnung eines Abstandsgebots im öffentlichen Raum und einer Maskenpflicht über die Untersagung von Veranstaltungen, Versammlungen sowie religiösen oder weltanschaulichen Zusammenkünften bis hin zu Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen im privaten sowie im öffentlichen Raum. Ebenso konnten Reisen untersagt und Hochschulen wie auch Betriebe, Gewerbe, Einzel- oder Großhandel geschlossen werden. Die - nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit formulierte - Auflistung war mehr als eine Eventualitätenliste: Jede einzelne der aufgeführten Maßnahmen wurde im Laufe der Corona-Pandemie tatsächlich ergriffen, einige kürzer, andere länger. Für die als Voraussetzung für solche Eingriffe definierte "epidemische Lage von nationaler Tragweite" hatte der Bundestag am 25. März 2020 mit großer Mehrheit gestimmt. Dafür votierten CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne; AfD und Linkspartei enthielten sich.

Sonderbefugnisse für das Gesundheitsministerium

Zunächst ging es bei der noch am selben Tag erfolgten Feststellung einer solchen "epidemischen Lage von nationaler Tragweite" durch den Bundestag nur darum, dem Bundesgesundheitsministerium Sonderbefugnisse zu geben. Das Ministerium erhielt dadurch die Ermächtigung, "unbeschadet der Befugnisse der Länder" bis auf Weiteres per Allgemeinverfügung oder Rechtsverordnung etwa Maßnahmen zur Sicherstellung der Grundversorgung mit Arzneimitteln, Schutzausrüstung und Labordiagnostik zu ergreifen oder auch Vorschriften für den grenzüberschreitenden Reiseverkehr zu erlassen. Von diesen Möglichkeiten machte Bundesgesundheitsminister Spahn ausgiebig Gebrauch.

Doch die Bedeutung der - seit dem 29. März 2021 auf je drei Monate begrenzten - Feststellung einer "epidemischen Lage von nationaler Tragweite" wuchs im Laufe der Pandemie. So war daran auch die sogenannte Bundesnotbremse gekoppelt, um die der Bundestag am 21. April 2021 das Infektionsschutzgesetz ergänzte und die zeitlich befristet bis zum 30. Juni 2021 galt. Sie verpflichtete einen Landkreis oder eine kreisfreie Stadt dazu, im Falle einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 100 zu einer ganzen Reihe konkret benannter Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Damit wurde die Kompetenz der Landesregierungen beschnitten, welche Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung jeweils zu ergreifen sind.

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Auch wenn mit den vielfältigen Anti-Coronamaßnahmen des Bundes und der Länder maßgeblich in die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger eingegriffen wurde, so hatten sie dennoch nicht die Dimension der Eingriffe in anderen europäischen Ländern wie Italien, Frankreich, Spanien oder Griechenland.

Gerichte stellen Zulässigkeit der Anordnungen nicht grundsätzlich in Frage

Gleichwohl waren sie von Anfang zumindest in einem Teil der Bevölkerung höchst umstritten und haben daher zu einer regelrechten Klageflut geführt. Aber trotz vereinzelt erfolgreicher Klagen stellten die Gerichte die Zulässigkeit der ergriffenen Schutzanordnungen bisher nicht grundsätzlich in Frage. Allein gegen die "Bundesnotbremse" sind mehr als 280 Verfassungsbeschwerden eingegangen. Anträgen auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen einzelne Maßnahmen oder die "Bundesnotbremse" im Ganzen hat das Bundesverfassungsgericht in keinem einzigen Fall stattgegeben. Die Karlsruher Richter stellten allerdings fest, dass damit noch nicht entschieden ist, dass beispielsweise die Ausgangsbeschränkung mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Unter anderem darüber will das Bundesverfassungsgericht in nächster Zeit entscheiden.