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Psychotherapie : Mangel an Therapieplätzen und lange Wartezeiten

Mit der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine ist der Bedarf an Psychotherapieplätzen noch einmal stark gestiegen- Patienten warten im Schnitt fünf bis sechs Monate.

28.03.2022
2024-03-14T11:47:25.3600Z
5 Min

Herr Munz, es mangelt schon seit Jahren an Psychotherapieplätzen. Woran liegt das?

Dietrich Munz: Das Hauptproblem ist die unzureichende Bedarfsplanung. Wir stellen heute insbesondere in ländlichen Regionen eine deutliche Unterversorgung fest. In Großstädten sind rund 36 Psychotherapeuten auf 100.000 Einwohner vorgesehen, in ländlichen Gebieten sind es zwischen 17 und 21, also etwa die Hälfte. Auch im Ruhrgebiet sind es nur rund 21. Und das, obwohl Menschen auf dem Land fast genauso häufig psychisch erkranken wie in der Stadt.

Foto: picture alliance/dpa/Marijan Murat

Der Bedarf wächst aus unterschiedlichen Gründen, weiß Dietrich Munz. Er ist Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer und der Landespsychotherapeutenkammer Baden-Württemberg.

Und der Bedarf scheint ja tendenziell zuzunehmen.

Dietrich Munz: Der Bedarf wächst. Das liegt einerseits ganz allgemein an der Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen in der Gesellschaft, andererseits an der besseren Ausbildung von Haus- und Fachärzten, die wissen, dass psychische Belastungen oder psychische Erkrankungen bei Patienten immer mit bedacht werden müssen. Früher lautete eine Diagnose öfter Rückenbeschwerden oder Schlafstörungen, heute wird genauer analysiert, ob sich womöglich eine Depression mit Einschlafstörung oder eine psychosomatische Erkrankung hinter den Symptomen verbirgt. Die Diagnostik der Ärzte hat sich also deutlich verbessert.

Wie lange warten die Patienten auf einen Therapieplatz?

Dietrich Munz: Nach Befragungsdaten etwa fünf bis sechs Monate im Schnitt, in ländlichen Regionen länger. Abrechnungsdaten zeigen, dass 40 Prozent der Patienten nach einem Erstgespräch beim Psychotherapeuten noch einmal mindestens drei bis neun Monate auf den Beginn der Therapie warten.

Wie lange dauern die Therapien?

Dietrich Munz: Es werden überwiegend Kurzzeittherapien mit bis zu 24 Therapiestunden durchgeführt, sie machen etwa 70 Prozent der Behandlungen aus. Die Langzeitbehandlungen umfassen entsprechend mehr Stunden. Die Dauer der Behandlung richtet sich nach dem Bedarf des Patienten.


„Durch die Pandemie hat sich die Lage dramatisch verschärft.“
Dietrich Munz, Psychologischer Psychotherapeut

Wie ließe sich die Zahl der Therapieplätze erhöhen?

Dietrich Munz: Nachhaltig nur durch eine Reform der Bedarfsplanung. Eine kurzfristige Möglichkeit wäre, dass die Krankenkassen mehr Anträge auf Kostenerstattung bewilligen. Damit gehen die Kassen aber sehr restriktiv um. Auch die Zulassungsausschüsse auf Landesebene können prüfen, wo eine Unterversorgung besteht und zusätzliche Kassensitze schaffen. Im Unterschied zu den Ärzten fehlt es uns nicht an Nachwuchs.

Was hat die Corona-Pandemie aktuell bewirkt?

Dietrich Munz: Durch die Pandemie hat sich die Lage dramatisch verschärft. Wir sehen sehr viel mehr psychische Belastungen und Erkrankungen mit der Konsequenz, dass Erstgespräche in der psychotherapeutischen Sprechstunde massiv zugenommen haben. In der Hochphase der Pandemie, im März 2021, sind fast ein Drittel mehr Behandlungen abgerechnet worden. Die Kollegen sind enorm unter Druck, weil die Nachfrage nach Sprechstunden bei Erwachsenen um 40 Prozent und bei Kindern und Jugendlichen sogar um 60 Prozent zugenommen hat. Die psychischen Belastungen der Pandemie sind sehr groß.

Worunter leiden die Patienten?

Dietrich Munz: Bei Kindern und Jugendlichen wurde das ausführlich untersucht, hier sind es vor allem Angststörungen und depressive Störungen. Bei Jugendlichen ist auch insbesondere eine Zunahme an Essstörungen zu beobachten sowie eine exzessive Nutzung digitaler Medien. Viele Kinder und Jugendliche leiden auch unter psychosomatischen Beschwerden, wie etwa Kopf- und Bauchschmerzen, Schlafstörungen. Bei Erwachsenen sind die Erkrankungen ähnlich.

Es kommen viele Flüchtlinge aus der Ukraine nach Deutschland, viele dürften vom Krieg traumatisiert sein. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Dietrich Munz: Da sehen wir große Probleme auf uns zukommen. Wir müssen dringend dafür sorgen, dass alle Kollegen, die Ukrainisch, Russisch oder Englisch sprechen, sofort Behandlungen für Flüchtlinge anbieten können. Die Kollegen brauchen dazu eine sogenannte Ermächtigung, wenn sie noch keine Kassenzulassung haben, oder müssen über Kostenerstattung abrechnen können. Das wäre eine kurzfristige Möglichkeit, um helfen zu können. Das wird aber nicht ausreichen, denn es kommen ja gerade sehr viele Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet bei uns an. Daher muss auch die professionelle Sprachmittlung bezahlt werden, also ein Dolmetscher, das ist aber nicht immer gewährleistet und für fremdsprachige Patienten in der gesetzlichen Krankenversicherung derzeit noch gar nicht geregelt.

Dürfen Flüchtlinge denn sofort eine psychotherapeutische Versorgung in Anspruch nehmen?

Dietrich Munz: Nach der EU-Massenzustromrichtlinie, auf deren Anwendung sich die europäischen Innenminister unlängst verständigt haben, sollen Geflüchtete aus der Ukraine sofort Zugang zu Gesundheitsleistungen erhalten. Das wird aber teilweise unterschiedlich ausgelegt je nach Schwere der Erkrankung. Bund und Länder haben beschlossen, dass auch die Versorgung psychischer Erkrankungen explizit Teil der Gesundheitsversorgung für diese Flüchtlinge sein soll. Wir appellieren daher an die Kommunen und die Krankenkassen, den Beschluss rasch umzusetzen, um den Kriegsflüchtlingen zu helfen.

Mit welchen Krankheitsbildern rechnen Sie?

Dietrich Munz: Insbesondere mit posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS). Zu den Symptomen gehören Schlafstörungen und sogenannte Flashbacks, bei denen die Betroffenen bestimmte Bilder oder Gefühle nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Damit verbunden sind oft auch Konzentrationsstörungen. Möglich sind zudem Depressionen und Angststörungen mit einem massiven Vermeidungsverhalten.

Wie äußern sich solche Störungen bei Kindern?

Dietrich Munz: Bei Kindern erleben wir häufig ein Rückzugsverhalten, Vermeidung von Kontakten, depressive Verstimmungen, Stimmungsschwankungen und Angst.


Dietrich Munz ist Psychologischer Psychotherapeut und Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer