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Foto: picture-alliance/dpa/Julian Stratenschulte
Nachwuchs wird dringend gesucht: Kaum ein Handwerksbetrieb in Deutschland ist nicht auf der Suche nach Personal.

Handwerk hat Imageproblem : Appell an die Natur des Menschen

Im Handwerk fehlen rund 250.000 Fachkräfte. Betroffen sind ausgerechnet jene Branchen, auf die es in Zukunft ankommen wird.

28.03.2022
2024-03-11T09:54:32.3600Z
6 Min

Kinder bauen sich aus alten Pappkartons ihre eigenes Spielhaus, bemalen die Wände ihres Kinderzimmers, stapeln Bauklötze zu hohen Türmen oder experimentieren mit einem Staubsauger. Und aus dem Off fragt eine Stimme: "Wann hören wir eigentlich auf, unser eigene Welt zu erschaffen? Wann lernen wir, dass es falsch ist, Wände zu bemalen? Wann verlieren wir die Neugier darauf, wie Dinge funktionieren?" Und schließlich: "Handwerk liegt in der Natur des Menschen. Was hindert so viele daran, es zum Beruf zu machen." Der 50-sekündige Videospot ist Teil einer großen Imagekampagne des deutschen Handwerks, die Anfang Februar bundesweit mit Plakatierungen und Video-Spots startete.

Nach Angaben des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) fehlen der Branche rund 250.000 Fachkräfte. Etwa 20.000 Lehrstellen blieben jährlich unbesetzt. Die Gründe sind vielfältig. Wie alle anderen Wirtschaftszweige leidet auch das Handwerk unter dem demografischen Wandel. Vereinfacht ausgedrückt: Wo zu wenige Kinder geboren werden, fehlt es langfristig auch an Nachwuchs am Arbeitsmarkt. Und in den kommenden Jahren wird eine immer größere Zahl von Fachkräften aus Altersgründen aus dem Berufsleben ausscheiden. Aber das Handwerk sieht sich mit einem ganz spezifischen Problem konfrontiert: Es leidet offenbar unter einem Imageproblem.

Imageproblem: Nur 36 Prozent schätzen das Ansehen des Handwerks als hoch ein

Es ist ein Paradox: Bei einer Forsa-Umfrage im Herbst 2021 gaben 93 Prozent der Befragten an, dass das Handwerk für sie persönlich sehr wichtig ist. Und über 80 Prozent attestierten dem Handwerk sichere Arbeitsplätze und gute Zukunftschance. Gleichzeitig aber schätzen nur 36 Prozent das Ansehen des Handwerks als hoch ein. "Es muss endlich in den Köpfen ankommen, dass eine berufliche Ausbildung genauso viel wert ist wie eine akademische", fordert denn auch ZDH-Präsident Hans Peter Wollseifer. "Damit die berufliche Ausbildung attraktiv bleibt, müssen die Berufe Wertschätzung erfahren."

Das Paradox erscheint noch größer, wenn man sich die Kennzahlen anschaut. Rund eine Million meist kleine und mittlere Betriebe sind in die Handwerkrollen und in das Verzeichnis des handwerksähnlichen Gewerbes eingetragen, sie bieten 5,62 Millionen Menschen einen Arbeitsplatz. Etwa 363.000 Lehrlinge erhalten eine Ausbildung. Das sind 13 Prozent aller Erwerbstätigen und 28 Prozent aller Auszubildenden in Deutschland. Das Handwerk gilt nicht ohne Grund als das Kernstück der deutschen Wirtschaft. Zudem kann das Handwerk auf eine gute wirtschaftliche Entwicklung verweisen. Der Umsatz stieg von 572 Milliarden Euro im Jahr 2016 kontinuierlich auf 654 Milliarden Euro im Jahr 2020. Die Quote der Insolvenzen liegt seit Jahren unter der der Gesamtwirtschaft.

Gleichstellung der beruflichen zur akademischen Bildung gefordert

Im gewissen Sinne ist der Fachkräftemangel im Handwerk auch eine Folge seines Erfolgs. "Die gute Konjunktur sorgte bis in das Jahr 2018 für eine kontinuierliche Steigerung der Arbeitskräftenachfrage. Die Zahl der Arbeitslosen reichte immer weniger aus, um offene Stellen besetzen zu können", heißt es in einer Studie des Kompetenzzentrums Fachkräftesicherung (KOFA) am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) vom Mai 2021. Dieser Trend sei durch eine konjunkturelle Abkühlung und die Corona-Pandemie zwar gebremst worden, dennoch fehlten in den Betrieben die benötigten Fachkräfte. Im Bauhandwerk sei die Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften selbst zu Pandemiezeiten weiter gestiegen. "So gab es im Jahr 2020, trotz Corona-Krise, für jede zweite vakante Meisterstelle bundesweit keine passend qualifizierten Arbeitslosen, mit denen man diese Stellen hätte besetzen können", schreiben die Verfasser der KOFA-Studie.

Auch beim ZDH betont man, dass die Corona-Pandemie nichts am Fachkräftemangel ändere: Vor allem betroffen seien jene Teile des Handwerks, auf die es zukünftig besonders ankomme. "Qualifizierte Fachkräfte werden nach Ende der Pandemie in allen Wirtschaftsbereichen gebraucht, um die Zukunftsfelder wie Klimaschutz, Energie- und Mobilitätswende, Wohnungsbau wie auch energetische Gebäudesanierungen sowie den digitalen wie analogen Infrastrukturausbau zu gestalten", erklärt eine Sprecherin des ZDH auf Anfrage. Und fügt pointiert an: "Man muss kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass all die zusätzlichen Vorhaben der neuen Regierung besonders im Klima- und Umweltschutz mit dem jetzigen Stamm an Beschäftigten im Handwerk nicht hinzubekommen sind."

Es ist kein Zufall, dass der ZDH diesen Umstand betont, denn er hat Forderungen an die Politik. Seit Jahren fordert das Handwerk eine konsequente Gleichstellung der beruflichen zur akademischen Bildung. Zum Beispiel in der Begabtenförderung: Während diese im Bereich der akademischen Ausbildung mit 300 Millionen Euro gefördert werde, werde die berufliche Bildung lediglich mit 60 Millionen Euro unterstützt, beklagt ZDH-Präsident Wollseifer. Zudem fordert er eine stärkere Finanzierung der Berufschulen und der 600 Bildungsstätten des Handwerks. Letztere würden im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP jedoch nicht einmal erwähnt.

Zahl der ausländischen Fachkräfte hat stark zugenommen

Angesichts des eklatanten Personalmangels setzt das Handwerk wie die Wirtschaft insgesamt verstärkt auf Fachkräfte aus dem Ausland - auch auf Geflüchtete. So hat sich nach Angaben des ZDH die Zahl junger Menschen mit einer Staatsangehörigkeit aus den acht häufigsten Asylländern (Afghanistan, Eritrea, Irak, Iran, Nigeria, Pakistan, Somalia und Syrien), die im Handwerk eine Ausbildung machen, seit 1995 verzehnfacht: von knapp 2.500 auf 24.600 im Jahr 2020.

Aktuell weckt auch der Zustrom der überwiegend weiblichen Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine Begehrlichkeiten. So könnte die Zuwanderung ukrainischer Frauen helfen, in Deutschland den Fachkräftemangel zu verringern, heißt es in einer Untersuchung des zur Bundesagentur für Arbeit gehörenden Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), die in der vergangenen Woche in Nürnberg vorgestellt wurde. So habe die Europäische Union Anfang März beschlossen, die sogenannte "Massenzustrom-Richtline" auf alle geflüchteten Ukrainer und Staatsbürger aus Drittstaaten, die sich bereits vor dem Angriff Russlands in der Ukraine aufgehalten haben, anzuwenden. Dies beinhalte auch, in Deutschland arbeiten zu dürfen.

Ob das deutsche Handwerk jedoch davon profitieren kann, ist fraglich. So weisen die Verfasser der Studie selbst darauf hin, dass die Erwerbsquote unter Ukrainerinnen bei lediglich 48 Prozent liege und dass sie vor allem in akademischen, technischen und medizinischen Berufen tätig seien. Und den ukrainischen Männern zwischen 18 und 60 Jahren, die sehr viel häufiger Handwerksberufe ausübten, sei die Ausreise wegen des Krieges nicht gestattet.

Pilotprojekt für Fachkräfte aus Bosnien-Herzegowina

Das Handwerk setzt auch vielmehr auf die bewusst gesteuerte Zuwanderung. So startete der ZDH 2020 zusammen mit der Bundesagentur für Arbeit Pilotprojekt "HabiZU" (Handwerk bietet Zukunft) für Fachkräfte aus Bosnien-Herzegowina. Im Zuge des zunächst auf drei Jahre angelegten Projektes sollen mindestens 120 Fachkräfte aus Bosnien und Herzegowina für die Bereiche Elektro, Metallbau sowie Anlagenmechanik für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik rekrutiert werden. Die Erfahrungen aus dem Projekt sollen wissenschaftlich ausgewertet und für eine erfolgreiche Umsetzung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes genutzt werden.

Insgesamt fordert der ZDH Nachbesserungen bei der Zuwanderung von Fachkräften. So müsse die von der Ampelkoalition angekündigte Entfristung der sogenannten Westbalkan-Regelung schnell umgesetzt werden. Die bis Ende 2023 befristete Regelung eröffnet Staatsbürgern von Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien für jede Beschäftigung einen Zugang zum Arbeitsmarkt in Deutschland. Vor allem müsse die jährliche Obergrenze von 25.000 Arbeitskräften pro Jahr gestrichen werden.

Menschenleere Sitzgruppen mit Bänken in einem Park.
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Nicht nur serbische Ärzte suchen das Weite Richtung EU. Auch Elektriker packen ihre Koffer. Das stellt die serbische Infrastruktur zunehmend vor Existenzprobleme.

Darüber fordert der ZDH, dass die Verfahren zur Zuwanderung ausländischer Fachkräfte beschleunigt werden und die Kosten für den Erwerb von Deutschkenntnissen im Herkunftsland von der öffentlichen Hand zumindest teilweise übernommen werden. Analog zum Stipendienprogramm des Deutschen Akademischen Austauschdienstes soll ein berufliches Stipendienprogramm für junge Zuwanderer aufgelegt, in deutschen Einrichtungen im Ausland wie Botschaften und Goethe-Instituten verstärkt über Karrierechancen in der beruflichen Ausbildung in Deutschland informiert werden.

So verständlich es ist, angesichts des Fachkräftemangels auf dem heimischen Arbeitsmarkt verstärkt Fachkräfte im Ausland anzuwerben, so problematisch ist dies auch . Denn auch dort werden Menschen gebraucht, die "die eigene Welt erschaffen".