Piwik Webtracking Image

Bittere Bilanz : "Wir müssen mehr tun, um die Selbstversorgung zu stärken"

Um Hungersnöte zu verhindern, fordert der Ernährungsexperte Rafaël Schneider mehr finanzielle Hilfen für Landwirte in Entwicklungsländern.

11.04.2022
2024-01-16T12:28:26.3600Z
6 Min

Herr Schneider, der Ukraine-Krieg hat weltweit die Lebensmittelpreise steigen lassen. Mitte März kostete eine Tonne Weizen fast 400 Euro. Ein Rekord.

Rafaël Schneider: Ja, bereits seit zwei Jahren steigen die Lebensmittelpreise massiv. Schon im Februar, noch vor der russischen Invasion in der Ukraine, hatten sie ein Allzeithoch erreicht. Durch den Krieg sind sie dann förmlich explodiert.

Foto: Welthungerhilfe
Rafaël Schneider
ist stellvertretender Leiter der Politikabteilung der Welthungerhilfe. Zu den Themen des promovierten Geographen gehören globale Ernährungssicherheit, ländliche Entwicklung, Wertschöpfungsketten und die Verwirklichung des Menschenrechts auf Nahrung. Der 51-Jährige leitet zudem die Entwicklung des Food Security Standard der Welthungerhilfe - ein Bewertungsmaßstab für Ernährungssicherheit bei landwirtschaftlichen Produzenten. Zuvor war er als Koordinator und Entwicklungshelfer in Afrika tätig.
Foto: Welthungerhilfe

Die Schwarzmeerregion gilt als Kornkammer Europas. Fast ein Drittel der globalen Weizenexporte, aber auch 60 Prozent des Sonnenblumenöls und rund 15 Prozent der Maislieferungen kommen aus Russland und der Ukraine. Gelangt jetzt überhaupt noch Getreide von dort auf den Weltmarkt?

Rafaël Schneider: Vereinzelt werden noch Lebensmittel und landwirtschaftliche Produkte aus Russland gehandelt - allerdings nur noch mit "befreundeten Staaten", darunter China oder Indien, und kaum noch auf den üblichen Wegen durch das Schwarze Meer in Richtung Afrika, in den Nahen und Mittleren Osten bis nach Asien. Solche Lieferungen sind unsicher und teuer geworden. Für die Ukraine aber ist die Lage weitaus schwieriger: Die Häfen sind blockiert, viele Anlagen zerstört, Schiffe können nicht auslaufen. Der Transport ist so fast völlig zum Erliegen gekommen.

Kommt es deshalb bereits zu Engpässen? Wie ist die Versorgungslage insbesondere in den Ländern, in denen eine historisch gewachsene Abhängigkeit von Getreideimporten aus der Schwarzmeerregion besteht?

Rafaël Schneider: In Ägypten und im Libanon, die gut zwei Drittel ihrer Weizenimporte aus Russland und der Ukraine beziehen, ist es sehr schnell zu Engpässen gekommen. In anderen Regionen, wie etwa Subsahara-Afrika, wirkten sich die unterbrochenen Transportwege zeitverzögert aus. Der Preisschock allerdings war sofort da.

Hatten die Länder nicht als Reaktion auf frühere Nahrungsmittelkrisen ihre Speicher gefüllt?

Rafaël Schneider: Doch. Viele Länder hatten tatsächlich aus den Krisen in den Jahren 2007/2008 und 2011 gelernt und die Speicherkapazitäten erhöht. Die Speicher waren daher - abgesehen von Krisenregionen wie etwa in Somalia und Äthiopien - relativ gut gefüllt. Im Libanon jedoch fehlt bis heute einer der größten Getreidesilos des Landes. Er wurde 2020 durch die Explosion am Beiruter Hafen völlig zerstört. Was erschwerend hinzukommt: Wie überall in den globalen Lieferketten läuft auch beim Getreidetransport vieles 'just-in-time'.

Foto: picture-alliance/robertharding/Roberto Moiola

Kampf um jedes Korn: Ein Bauer beim Dreschen von Weizen in Äthiopien.

Und Getreide könnte noch knapper werden, die Preise weiter steigen...

Rafaël Schneider: Je länger der Krieg dauert, desto fraglicher ist, ob die Landwirte in der Ukraine ihre Felder in Zukunft bestellen können. Diese Unsicherheit treibt derzeit besonders die Preise auf den Märkten nach oben. Die Ernte des Winterweizens steht im Juli an, die Aussaat für Mais und Sonnenblumen sollte jetzt erfolgen. Wenn sie unterbleibt, ob nun aufgrund der Kampfhandlungen oder weil es an Männern, Maschinen oder Treibstoff fehlt, drohen auch große Teile der nächsten Ernten verloren zu gehen. Schon jetzt ist von einem Rückgang der Exporte aus der Ukraine von 30 Prozent auszugehen. Sollten die Kämpfe andauern, könnten sogar 40 bis 60 Prozent ausfallen.

Auch in den umkämpften Gebieten in der Ostukraine werden Lebensmittel inzwischen knapp.

Rafaël Schneider: Es ist davon auszugehen, dass mehr als 240.000 Menschen mit Nahrungsmitteln versorgt werden müssen. Dabei verfügt die Ukraine durchaus noch über Vorräte, aber der Transport ist unterbrochen.

Wie groß ist die Gefahr, dass diese Vorräte durch russische Angriffe vernichtet werden?

Rafaël Schneider: Die Gefahr besteht. Es ist zwar ein Kriegsverbrechen, die Ernährungssicherheit eines Landes zu zerstören und Hunger als Waffe einzusetzen, aber es gibt bereits Berichte über wiederholte Angriffe der russischen Streitkräfte auf Getreidespeicher. Silos sind militärstrategische Ziele.

Der Chef des Welternährungsprogramms (WFP), David Beasley, warnt vor neuen Hungerrevolten und Migrationsbewegungen aus Afrika und dem Nahen Ostens in Richtung Europa als Folgen der Nahrungsmittelknappheit.

Rafaël Schneider: Der Ukraine-Krieg kommt zur Unzeit. Die Krisen in der Welt häufen und verstärken sich gegenseitig, die Auswirkungen sind aber vor allem in den ärmsten Ländern im globalen Süden katastrophal. Die Corona-Pandemie hat weltweit Lieferketten durchbrochen, Arbeitslosigkeit vergrößert und so die finanziellen Reserven vieler Menschen aufgezehrt. Es gibt zudem viele ungelöste Konflikte, zum Beispiel im Jemen, in Afghanistan oder in Mali. Dazu kommen Dürren und der Klimawandel. Am Horn von Afrika erleben wir derzeit eine der schlimmsten Trockenperioden seit Jahrzehnten. In Äthiopien, Somalia und Südsudan haben schon jetzt 43 Millionen Menschen nicht ausreichend zu essen. Das alles zusammen macht die Lage brandgefährlich. Sie könnte ein Feuer entfachen, wie wir es lange nicht gesehen haben.


„Bereits 2009 hatten die G8 auf ihrem Gipfel in d'Aquila beschlossen, Kleinbauern zu unterstützen, doch wenig ist passiert. Das rächt sich jetzt.“
Rafaël Schneider

Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) sprach von 8 bis 13 Millionen Menschen, die der Krieg zusätzlich in den Hunger treiben könnte. Was ist zu tun, um das zu verhindern?

Rafaël Schneider: Die Zahlen halte ich sogar für zu niedrig kalkuliert. Laut WFP könnten die Folgen des Krieges 47 Millionen Menschen treffen. 2021 hatten bereits 811 Millionen Menschen weltweit nicht genug zu essen. Angesichts des erklärten Ziels der Weltgemeinschaft, den Hunger bis 2030 zu beseitigen, eine bittere Bilanz. Deshalb braucht es jetzt schnell ein größeres finanzielles Engagement für Nahrungsmittelhilfe und nachhaltige Entwicklung.

Wie viel Geld fehlt konkret?

Rafaël Schneider: Wenn Nahrungsmittel im Einkauf 30 Prozent teuer sind, benötigen Hilfsorganisationen auch mindestens 30 Prozent mehr finanzielle Mittel. Schon jetzt können wir mit dem gleichen Geld immer weniger Menschen unterstützen. Das Welternährungsprogramm musste bereits seine Hilfsrationen im Jemen reduzieren. Gleichzeitig braucht es dringend Hilfen für die Landwirtschaft in ernährungsunsicheren Regionen, denn die Preise für Düngemittel, Saatgut und Treibstoffe sind zuletzt ebenfalls explodiert. Wenn Landwirte in Entwicklungsländern nicht mehr genug anbauen können, wird sich die Nahrungsmittelkrise weiter verschärfen. Wir müssen daher jetzt mehr tun, um die Selbstversorgung im globalen Süden zu stärken - zum Beispiel durch Entwicklungshilfe, Subventionen oder das Erlassen von Schulden.

Um kurzfristig Getreideausfälle zu kompensieren, fordern manche, die EU solle einspringen und einen Teil der fehlenden Lieferungen aus der Ukraine übernehmen.

Rafaël Schneider: Das halte ich politisch für keine gute Idee. Natürlich könnte es dazu beitragen, die Getreidepreise zu senken. Die EU würde sich zudem Marktanteile auf dem Getreidemarkt sichern. Doch nachhaltiger wäre es, endlich die Landwirtschaft und damit die Ernährungssicherheit vor Ort in den Entwicklungsländern zu verbessern, indem zum Beispiel Nachernteverluste durch schlechte Lagerung, Tier- oder Schädlingsbefall verringert werden. Bereits 2009 hatten die G8 auf ihrem Gipfel in d'Aquila beschlossen, Kleinbauern zu unterstützen, doch wenig ist passiert. Das rächt sich jetzt.

Sollten Länder mit großen Nahrungsmittelreserven Teile davon für den Export freigeben?

Rafaël Schneider: Ja, Indien etwa hat seine Weizenexporte bereits auf Rekordniveau gesteigert. Auch Australien könnte seine Ausfuhren erhöhen. Doch die drohende Lücke, wenn die Schwarzmeerregion als Kornkammer ausfällt, lässt sich auch so nicht völlig schließen. Um Engpässe zu vermeiden, ist es jetzt ganz entscheidend, weltweit Exportbeschränkungen abzubauen und Nahrungsmittel nicht zu horten.

Da ist es leider keine gute Nachricht, dass Serbien gerade angekündigt hat, Exporte von Weizen, sowie von Mais, Mehl und Speiseöl, zu verbieten. Auch Ungarn hat Exportstopps verhängt, und Bulgarien beginnt nun ebenfalls seine Getreidereserven aufzustocken und Ausfuhren zu begrenzen.


„60 bis 70 Prozent des in Deutschland geernteten Getreides werden als Tierfutter in der Fleischproduktion verwendet.“
Rafaël Schneider

China hat Berichten zufolge in den vergangenen Monaten auch riesige Lebensmittelvorräte angehäuft und könnte diese nun auch geostrategisch nutzen. Lassen sich solche Hamsterkäufe nicht international kontrollieren, auch um Preissteigerungen zu vermeiden?

Rafaël Schneider: Die Welthandelsorganisation setzt sich in Verhandlungen zwar gegen Exportstopps ein, aber verbieten kann sie diese natürlich nicht. Das gilt auch für Hamsterkäufe - diese lassen sich zudem nur sehr schwer kontrollieren.

Bei der Nahrungsmittelkrise 2007/2008 trieb Spekulation die Getreidepreise auf die Spitze. Hungerproteste in mehr als 60 Ländern waren die Folge. Muss die Politik eingreifen?

Rafaël Schneider: Spekulation verstärkt die Preisspitzen - das stimmt. Doch sie ist nicht der auslösende Faktor, das haben Untersuchungen gezeigt. Faktoren wie Knappheit, Nachfrage, die Weltmarktsituation oder auch Wetterextreme wirken viel stärker als die Spekulation selbst. Ihre Wirkung wird oft überschätzt.

Mehr zum Thema

Grafische Darstellung zum Etat wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 2024
Entwicklungsetat 2024: Bundesregierung plant 600 Millionen Euro weniger für Entwicklung
Das zweitgrößte Geberland in der Entwicklungszusammenarbeit muss sparen. Kann es seiner globalen Verantwortung so noch gerecht werden? Im Bundestag gibt es Zweifel.

Bauernvertreter fordern nun, für den Umweltschutz bestimmte "ökologische Vorrangflächen" auch bebauen zu können. Ist das der richtige Weg aus der Ernährungskrise?

Rafaël Schneider: Agrarreformen wie den Green Deal auszusetzen, halte ich nicht für den richtigen Weg. Ich warne sogar ausdrücklich davor, die Bemühungen um Klimaschutz aufzugeben. Um der Nahrungsmittelknappheit entgegenzuwirken, können wir die Hebel an anderer Stelle einfacher und effektiver ansetzen - zum Beispiel beim Fleisch- und Energieverbrauch: 60 bis 70 Prozent des in Deutschland geernteten Getreides werden als Tierfutter in der Fleischproduktion verwendet. Knapp neun Prozent kommen für die Erzeugung von Biosprit zum Einsatz.