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Wende zu mehr nachhaltiger Mobilität : Die Weichen der Bahn müssen neu gestellt werden

Fünf bis sechs Prozent der Deutschen nutzen die Bahn, um an den Ferienort zu kommen. Dabei könnten Zugreisen eine goldene Zukunft haben. Dafür muss viel geschehen.

25.07.2022
2024-03-05T10:52:52.3600Z
8 Min

Unzuverlässiger Bahnverkehr, endlose Staus auf Autobahnen, Chaos an Flughäfen - die Urlaubszeit wird wieder zur Nervenprobe für viele Touristen. Nach zwei Corona-Jahren ist die Reiselust enorm, die Verkehrsinfrastruktur kann den Ansturm zeitweise kaum noch verkraften. Auch auf der oft überlasteten Schiene herrscht zu häufig abschreckender Ausnahmezustand. Nun rächen sich Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit.

Das ist tragisch, denn die Bahn ist das umweltfreundlichste Massenverkehrsmittel, das wir haben. Und jeder Experte weiß: Ohne einen leistungsfähigeren Schienenverkehr ist die Wende zu mehr nachhaltiger Mobilität nicht zu schaffen. Dabei beweist der Andrang wegen des Neun-Euro-Tickets, dass die Bahn gern genutzt wird, wenn Angebote attraktiv und unkompliziert sind. Bei längeren Urlaubsreisen ist der Zug allerdings nur selten eine Option.

Foto: picture-alliance/Daniel Kubirski

Die Bahn steht vor gewaltigen Herausforderungen. Meistert sie die, könnte sie als umweltschonendes Verkehrsmittel eine strahlende Zukunft haben.

Nur fünf bis sechs Prozent der Deutschen nutzen die Bahn, um an den Ferienort zu kommen, wie Studien zeigen. Die meisten fahren mit dem Auto oder steigen in den Flieger. Dabei können Zugreisen bei Zielen im Inland und in Nachbarländern eine entspannte, preiswerte und umweltschonende Alternative sein - wenn alles klappt.

Infrastruktur wuurde lange vernachlässigt

Doch die Negativrekorde bei Verspätungen, Zugausfällen und Baustellen bis hin zu abgesperrten Bahnsteigen und zwangsgeräumten Bahnen wegen Überfüllung zeigen leider, dass die Schiene den gewaltigen Herausforderungen der Verkehrswende bisher nicht gewachsen ist. Zu lange haben wechselnde Bundesregierungen, Verkehrsminister und die zuständige Deutsche Bahn AG die Infrastruktur sträflich vernachlässigt.

Denn nur mit leistungsfähigen Gleisnetzen, Bahnhöfen, Steuerungs- und Sicherheitssystemen ist ein zuverlässiger Bahnbetrieb möglich. Allein der Reparaturstau bei den bundeseigenen Schienenanlagen jedoch hat sich auf mehr als 50 Milliarden summiert, für die überfällige Digitalisierung werden Kosten von mindestens 32 Milliarden Euro veranschlagt und für neue ICE-Strecken und andere Ausbauten im Bundesverkehrswegeplan mehr als 100 Milliarden Euro. Beschlossen und finanziert ist nur ein Bruchteil davon.


„Noch nie warten so viele Züge auf dem deutschen Netz unterwegs, noch nie aber gab es auch so viele Baustellen.“
Richard Lutz, Vorstandschef des DB-Konzerns

So müssen sich Bahnkunden auf noch größere Probleme einstellen. "Noch nie warten so viele Züge auf dem deutschen Netz unterwegs, noch nie aber gab es auch so viele Baustellen", beschreibt Richard Lutz, Vorstandschef des DB-Konzerns, die lange absehbare Klemme zwischen wachsender Nachfrage und enormem Modernisierungsbedarf. Die zentrale Aufgabe in den kommenden Jahren sei nun die Sanierung des störanfälligen Schienennetzes, so die späte Erkenntnis.

Eine Task Force soll den Riesenkonzern kontrollieren

Zunächst sollen bis 2024 die wichtigsten Korridore erneuert und zum "Hochleistungsnetz" werden, verspricht der Chef des größten deutschen Staatskonzerns. Auch die Ampelkoalition will aus den Fehlern der Vorgängerregierungen lernen. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) nimmt die DB an die kurze Leine. Eine Task Force in seinem Haus soll den Riesenkonzern mit seinen 337.000 Mitarbeitern besser steuern und kontrollieren, damit die Interessen des Bundes als Eigentümer und der Bürger an funktionierendem Bahnverkehr gemäß der Verfassung künftig besser gewahrt werden.

Ab 2024 soll dazu die Infrastruktur von einer gemeinnützigen Infrastrukturgesellschaft verwaltet werden. Zudem soll eine "Beschleunigungskommission Schiene" Modernisierung und Ausbau voranbringen und eine neue Stabstelle im Ministerium den Deutschland-Takt, mit dem ab 2030 viele Städte und Regionen wieder häufigere und regelmäßige Zugverbindungen bekommen sollen. Die Zeitspannen zeigen: Es wird noch viele Jahre dauern, bis der Schienenverkehr so aufgestellt ist, dass die von den Regierung angestrebte Verdoppelung der Fahrgastzahlen möglich ist.

Dabei sind die Potenziale der Bahn gerade im Tourismus riesig, werden aber bisher "nicht annähernd genutzt", wie Joos Hahn vom Reisebüro Gleisnost in Freiburg kritisiert, das auf Bahnreisen spezialisiert ist. Der Praktiker kennt die Defizite aus Erfahrung, zum Beispiel den abschreckenden Tarif- und Verbindungsdschungel im grenzüberschreitenden Verkehr: "Sobald die Reise über eine Landesgrenze geht, beginnt die Kleinstaaterei". Es fehle an Abstimmung, Tickets aus anderen Ländern seien bei nationalen Bahnen kaum erhältlich.

Hälfte der Reisebüros hat Ticketverkauf aufgegeben

Umso unverständlicher ist es für Hahn, dass der DB-Konzern seit Jahren Reisebüros benachteilige, die Bahntickets an klimabewusste Kunden verkaufen: "Hier wird einfach eine seit Jahren laufende Strategie durchgezogen, den personenbedienten Verkauf abzuwürgen." Ab nächstem Jahr sollen viele Agenturen überhaupt keine Umsatzprovision mehr bekommen, die Hälfte der früher 3.200 Reisebüros mit DB-Lizenz hat nach zahlreichen Kürzungen den Ticketverkauf bereits aufgegeben.


„Hier wurde viel versäumt und kaputtgemacht.“
Joos Hahn, Reisebüro Gleisnost Freiburg

Einen "ganz guten Job" bescheinigt Hahn dem DB-Konzern und seinem ICE-Verkehr auf ausgebauten Rennstrecken im Inland wie Berlin-München und Frankfurt-Köln, wo dank kürzerer Fahrtzeiten inzwischen viele Reisende vom Flieger auf den Zug umgestiegen sind. Allerdings seien gleichzeitig wichtige Langstreckenverbindungen systematisch abgeschafft worden: "Hier wurde viel versäumt und kaputtgemacht." Das habe in der Peinlichkeit gegipfelt, dass der DB-Konzern sein komplettes Nachtzuggeschäft aufgegeben und es Österreichs Staatsbahn ÖBB überlassen habe.

Verbindung München-Rom sehr beliebt

Wie groß das Interesse an Nachtzügen ist, zeigt für Hahn die ÖBB-Verbindung von München nach Rom, die meist schon kurz nach Buchungsstart ausverkauft sei, und das sechs Monate vor Abfahrt. Er vermisst mehr Angebote, zum Beispiel von Süddeutschland nach Kopenhagen, Prag oder Warschau: "Von alleine kommen die Bahngesellschaften hier nicht in die Gänge. Die Politik müsste gezielt Anreize schaffen, wenn es ihr wirklich ernst ist mit klimafreundlichen Reisen."

Der DB-Konzern lehnt eine Wiederaufnahme des eigenen Nachtzugverkehrs weiterhin ab, will aber mit Partnern "in den nächsten Jahren gemeinsam auf der Schiene 13 europäische Millionenmetropolen über Nacht verknüpfen", wie eine Sprecherin erklärt. So arbeite man aktuell an neuen Nachtverbindungen zwischen Berlin und Paris und zwischen Berlin und Brüssel, die 2024 starten sollen.

"Die entscheidenden Effekte für die Mobilitätswende erreichen wir im Tagesverkehr", betont der Staatskonzern. So biete ein einziger ICE, der zwischen Frankfurt/Main und Brüssel zweimal am Tag hin und her fahre, bei den vier Fahrten 1.800 Plätze, der einmalige Nachtzug dagegen nur 250. Mit den neuen ICE 4, die in der XXL-Version 918 Fahrgäste befördern können, stünden in der DB-Fernzugflotte im Sommerfahrplan drei Millionen Sitzplätze pro Woche bereit, so viel wie nie zuvor.

Schnelle Auslandsverbindungen gefragt

Sehr gefragt sind dabei nach DB-Angaben die schnellen ICE-Direktverbindungen ins Ausland, zum Beispiel nach Paris, Amsterdam, in die Schweiz und nach Österreich. Besonders in Frankreich, Benelux, Spanien, Italien und Skandinavien kommen Reisende mit schnellen Highspeed-Zügen nationaler Bahnen in wichtige Metropolen, der Eurostar fährt zudem durch den Kanaltunnel auf die britische Insel. Und mit den beliebten Interrail-Tickets können selbst Senioren zum günstigen Pauschalpreis fast ganz Europa auf der Schiene erkunden.

Wer dennoch auf Flüge nicht verzichten möchte, kann die Bahn wenigstens zur An- und Abreise am Airport nutzen. Allein der DB-Konzern kooperiert mit über 50 Airlines. Mit Rail & Fly lassen sich Züge zum Airport von 5.600 Bahnhöfen buchen und so die kurzen und deshalb besonders klimaschädlichen Zubringerflüge einsparen.

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Beim Deutschen Reiseverband sieht man vor allem die Politik in der Pflicht, im grenzüberschreitenden Bahnverkehr die Transportsysteme besser zu verknüpfen und buchbar zu machen. Hier müssten Bund und EU "schneller vorankommen, damit die Bahn eine gute Alternative für die Urlaubsreise werden kann", betont Sprecherin Kerstin Heinen. Für mehr Transparenz und einheitliche Buchungen könnte die nationale Tourismusstrategie Impulse setzen, hofft der Verband.

Mehr Tempo beim Ausbau gefordert

Die Allianz pro Schiene fordert ein Umsteuern in der Verkehrspolitik. "Wer den Tourismus nachhaltiger machen will, darf Bahnkunden nicht länger schröpfen", sagt Geschäftsführer Dirk Flege. So sei grenzüberschreitender Flugverkehr von der Mehrwertsteuer befreit, der Zugverkehr nicht: "Umweltpolitisch ein Unding. Gleichbehandlung wäre das Mindeste, besser wäre eine Umkehrung." Auch Flugbenzin werde in Deutschland und Europa nicht besteuert, während Deutschland auf Bahnstrom die höchste Steuer in der EU kassiere.

Anders als beim Straßenverkehr zwinge die EU zudem die Mitgliedsstaaten, im Bahnverkehr Maut zu verlangen: "Eine Ausnahme gab es nur in der Corona-Krise. Diese Ausnahme sollte für Nachtzüge dauerhaft verlängert werden." Massive Benachteiligung sieht Flege zudem bei der Infrastruktur, denn grenzüberschreitende Fernverkehrszüge sind auf Oberleitungen angewiesen. Doch von 57 Grenzübergängen seien bisher nur 27 elektrifiziert. Gäbe es mehr Oberleitungen, würden sich durchgehende Zugverbindungen eher rechnen, so Flege. Insbesondere nach Polen und Tschechien sei für ICE und Nachtzüge "an fast allen Grenzübergängen der Eiserne Vorhang noch existent".

Thomas Wüpper ist freier Autor in Berlin.