Piwik Webtracking Image

Engagement gegen Antisemitismus : "Der Kampf gegen Judenhass und Rassismus beginnt im eigenen Kopf"

Für sein Engagement gegen Judenhass erhielt Burak Yilmaz das Bundesverdienstkreuz. Über seine Erfahrungen berichtet er in seinem Buch "Ehrensache".

17.01.2022
2024-01-09T11:04:52.3600Z
8 Min
Foto: picture alliance / zb / Frank Schumann

Durch dieses Tor des KZ Auschwitz mit dem Schriftzug "Arbeit macht frei" zogen von Mai 1940 bis zur Befreiung durch sowjetische Truppen am 27. Januar 1945 zehntausende Häftlinge und Gefangene.

Herr Yilmaz, Sie haben türkische Wurzeln. Ihr Buch ist stark autobiografisch geprägt, enthält viele persönliche Erfahrungen. Was interessiert Sie so sehr am Thema Antisemitismus?

Burak Yilmaz: Geschichte und Politik haben mich schon immer interessiert. Wenn man wie ich in Duisburg-Obermarxloh in einer türkisch-kurdischen Familie aufwächst und mitbekommt, wie viel leichter es deutsche Freunde haben, dann betrachtet man die Gesellschaft mit anderen Augen. "Warum behandeln die uns so ungerecht?", das war vielleicht die häufigste Frage in meiner Kindheit. Als ich dann in der sechsten Klasse vom Holocaust erfahren habe, war ich verängstigt, dass so etwas in Deutschland passieren konnte. Ich will nicht nur die Geschichte verstehen, sondern auch erkennen, welche Schatten der Vergangenheit bis heute reichen.

Sie sprechen von der eigenen Herkunftsfamilie als "Ressource". Was heißt das?

Burak Yilmaz: Geschichte fängt dort an. Fast jede deutsche Familie war in den Nationalsozialismus verstrickt. Ich erlebe es oft bei deutschen Jugendlichen, dass sie sich dafür schämen, aber auch relativ gleichgültig sagen: "Das hat doch nichts mit mir zu tun!" Mit Ressource meine ich, dass Menschen nach dieser biografischen Selbstreflexion ein anderes Selbstbewusstsein haben. Sie finden Worte für das Schweigen in der Familie, für ihre Scham, und begreifen ihre Verantwortung. Darin liegt ein großes Potenzial, denn durch diese Aufarbeitung wird unsere Demokratie gestärkt.

Ihre Eltern haben dazu beigetragen, dass Sie das migrantische Arbeitermilieu verlassen und sozial aufsteigen konnten. Gegen die Empfehlung der Lehrkräfte besuchten Sie ein katholisches Gymnasium, auf Wunsch Ihrer Familie aber auch eine Koranschule...

Burak Yilmaz: Von Montag bis Freitag auf dem christlichen Gymnasium und am Wochenende in der Koranschule war für mich ein riesiger Spagat. Zwischen diesen Orten lagen nur drei Kilometer, aber es war ein Wandern zwischen Planeten. Ich habe mich oft einsam gefühlt, weil niemand beide Welten kannte. Bei meinen türkischen Freunden war es normal, dass wir über Rassismus geredet haben, denn wir haben es täglich erlebt. Bei meinen deutschen Freunden war das ein Tabuthema. Andererseits hatten meine deutschen Freunde sehr viele Freiheiten, die wir nicht hatten. Zum Beispiel Freundinnen haben oder in die Disco gehen. Das haben wir alles vor unseren Eltern verheimlicht.

Nach dem Abitur absolvierten Sie ein Lehramtsstudium und wurden Pädagoge. Im Buch berichten Sie von Ihrer Arbeit in einem Jugendzentrum, zitieren muslimische Besucher mit dem Satz "Wir sind Antisemiten, daran kannst du nichts ändern!" Wie haben Sie reagiert?

Burak Yilmaz: Ich habe sie gepackt und rausgeschmissen, weil sie den Hitlergruß gezeigt haben, danach gab es drei Monate Hausverbot. Aber ich wollte ran an diese antisemitischen Denkmuster und ihr Verhalten. Ich habe sie gefragt, woher ihre Vorurteile und ihre Verachtung kommen, und habe betont, dass sie damit im Jugendzentrum keine Chance haben. So entwickelten sich biografische Gespräche über Erziehung und Kindheit. Es stellte sich heraus, dass sie aus islamistischen Familien kamen, in denen Judenhass Teil ihrer Erziehung und Ideologisierung war.

Foto: Thekla Ehling/Agentur Focus
Burak Yilmaz
geboren 1987, ist selbstständiger Pädagoge und Autor in Duisburg. Er arbeitet in Schulen und Gefängnissen im Bereich der Extremismusprävention, zudem lehrt er an einer örtlichen Polizeihochschule. Für sein vielfältiges zivilgesellschaftliches Engagement sowie für eine inklusive Erinnerungskultur verlieh ihm Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 2018 das Bundesverdienstkreuz.
Foto: Thekla Ehling/Agentur Focus

Ist Antisemitismus unter jungen Muslimen besonders stark verbreitet?

Burak Yilmaz: Antisemitismus gibt es natürlich auch unter Muslimen, vor allem die sozialen Medien haben in den letzten Jahren dabei eine große Rolle gespielt. Es gibt dazu keine genauen Daten, doch in der beruflichen Praxis begegnet er mir häufig. Auf der anderen Seite wächst aber innerhalb der muslimischen Community auch das Engagement gegen Antisemitismus. Viele haben begriffen, dass der Kampf gegen Rassismus den Kampf gegen Antisemitismus einschließen muss.

Muslime sind antisemitisch - ist das ein Klischee, eine viel zu simple Zuschreibung?

Burak Yilmaz: Die antisemitischen Demonstrationen etwa im Ruhrgebiet haben gezeigt, dass das eine Realität ist, die jüdische Menschen bedroht. Auch in Zukunft rechne ich mit solchen gewaltbereiten Protesten. Judenhass ist aber kein rein muslimisches Problem. Mit einem Generalverdacht kommen wir nicht weiter. Und wir müssen auch darüber diskutieren, welche Rolle die Politik beim Ausbau islamistischer Netzwerke gespielt hat. Es ist skandalös, dass die Sicherheitsbehörden wie in Duisburg bei der Extremismusprävention mit türkischen Nationalisten kooperieren. Damit muss endlich Schluss sein.

Entlastet sich die Mehrheitsgesellschaft auf diese Weise von ihren eigenen Ressentiments? Manche sprechen ja gar von "importiertem Antisemitismus".

Burak Yilmaz: Diese Entlastung erlebe ich sehr oft. Wie man sich ausgerechnet in Deutschland vom Judenhass entlasten möchte, bleibt mir ein Rätsel. Studien zeigen, dass 15 bis 20 Prozent unserer Gesellschaft zu antisemitischen Einstellungen neigen. Es kann nicht sein, dass sich Menschen aufgrund ihrer Herkunft so bedroht fühlen, dass sie diese verheimlichen. Wir tragen alle eine Verantwortung, wenn es darum geht, mehr Sichtbarkeit und Teilhabe für Jüdinnen und Juden zu schaffen, jenseits klischeehafter Vorstellungen.

Sie fahren seit vielen Jahren mit jungen Muslimen nach Polen, besuchen die KZ-Gedenkstätte in Auschwitz. Welche Eindrücke nehmen die Gruppen mit, was lernen Sie dort?

Burak Yilmaz: Die Eindrücke der Jugendlichen sind sehr unterschiedlich. Viele sind sprachlos über das Ausmaß der Gewalt, den Vernichtungswillen der Nazis und das Leben im Lager. Anhand persönlicher Geschichten wird dieser Ort greifbarer. Einmal trafen wir dort eine israelische Reisegruppe, und einer unserer Teilnehmer sagte später: "Ich hatte Mitgefühl mit meinen Feinden." In seiner Familie und im muslimischen Freundeskreis hingegen wurde er wegen der Teilnahme an der Fahrt nach Auschwitz angegriffen.

Was haben die Kinder oder Enkel von Zugewanderten mit der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu tun?

Burak Yilmaz: Unsere Großeltern haben mitgeholfen, Deutschland wiederaufzubauen. Nicht wenige von ihnen waren sogar in jenen Industriebetrieben beschäftigt, die während des Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeiter aus dem Osten einsetzten Ich frage mich heute, ob meine Großeltern nach Deutschland gekommen wären, wenn sie das vorher gewusst hätten. Aber sie hatten nur sehr geringe Kenntnisse über die NS-Zeit.


„Auch Minderheiten, die Rassismus erleben, können rassistisch oder antisemitisch sein.“
Burak Yilmaz, Pädagoge und Autor

Die Nationalsozialisten pflegten enge Kontakte zur arabischen Welt, etwa zum sehr antisemitisch eingestellten Mufti von Jerusalem. Und den türkischen Umgang mit den Armeniern hat der Bundestag als Völkermord eingestuft.

Burak Yilmaz: Rassismus und Antisemitismus sind ein globales Phänomen. Es existiert auf allen Ebenen unserer Gesellschaft. Auch Minderheiten, die Rassismus erleben, können rassistisch oder antisemitisch sein. Sie haben aber nicht dieselben Ressourcen und Möglichkeiten wie die Mehrheit, um einen Wandel einzuleiten. Wenn wir die Verantwortung immer auf die anderen schieben, wird sich unsere Gesellschaft spalten. Der Kampf gegen Judenhass und Rassismus beginnt im eigenen Kopf. Egal, ob ich Stefan oder Fatma heiße.

Fördert der Konflikt zwischen Israel und Palästina den Antisemitismus unter Muslimen?

Burak Yilmaz: Nein, er offenbart ihn eher. Viele behaupten, Israel sei schuld am Judenhass, aber Judenhass ist der Grund dafür, dass es Israel gibt. Der israelbezogene Antisemitismus war gerade bei den letzten Demonstrationen im Jahr 2021 erschreckend radikal. Tagelang wurde vorher in digitalen Netzwerken wie Tiktok und Instagram Stimmung gemacht. Die Unterstützung der Palästinenser wurde instrumentalisiert, um den Hass auf Juden und Israel loszuwerden. Wenn islamistische Schlachtrufe mit einem antisemitischen Vernichtungswunsch gebrüllt werden, dann hat das nichts mehr mit Kritik oder gar Solidarität zu tun. Mit Jugendlichen differenziert über den Nahostkonflikt zu sprechen und ihnen Widersprüche aufzuzeigen, ist ein Weg, um diesen Hass zu bekämpfen.

Neben den Auschwitz-Fahrten haben Sie auch noch ein Theaterprojekt ins Leben gerufen...

Burak Yilmaz: Das Spielen im Theater erleben viele als eine Art Befreiung. Introvertierte Jugendliche gehen in einer anderen Rolle plötzlich auf und entdecken ihre verborgenen Fähigkeiten. Ich habe mit meiner Theatergruppe "Die Blickwandler" das Stück "Benjamin und Muhammed" geschrieben. Wir zeigen eine jüdisch-muslimische Freundschaft, die sich viele nicht mal vorstellen können. Als Teil einer Minderheit sitzen Benjamin und Muhammed aber im selben Boot. Wenn eine Seite des Bootes beschädigt wird, dann gehen beide unter. Vor allem in Schulen kommt dieses Stück sehr gut an.

Glauben Sie, dass sich die antisemitischen Vorurteile in den folgenden Generationen mit Migrationshintergrund abschwächen werden?

Burak Yilmaz: Ja! Ich erhalte dauernd Mails von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die das Thema Judenhass auf ihre Tagesordnung packen. Auch der Austausch mit den jüdischen Gemeinden wächst, und an den Schulen spüre ich, dass sich junge Menschen einmischen wollen und Zivilcourage zeigen. Vor zehn Jahren war mein Projekt "Junge Muslime in Auschwitz" noch bundesweit einmalig, inzwischen gibt es immer mehr solche Initiativen. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass im Kampf gegen Judenhass die gesamte nichtjüdische Mehrheit in unserem Land in der Verantwortung steht.

Am Ende des Buches plädieren Sie dafür, offen zu sein für die "Menschen der anderen Seite". Was meinen Sie damit?

Burak Yilmaz: Ich erinnere mich an einen Vortrag in Israel über meine Arbeit. Neben den deutschen Gästen saßen dort jüdische und arabische Israelis. Ich fühlte mich sehr angespannt, es war ein Drahtseilakt. Ich habe dafür plädiert, dass es einen Perspektivwechsel braucht. Wir müssen uns öffnen für die Geschichten anderer, ihre Lebenswelten verstehen. Wir brauchen immer wieder gemeinsame Gespräche und Strategien, wie wir an einer besseren und gerechteren Zukunft arbeiten können. Ich will nicht, dass die Trennlinie in unserer Gesellschaft zwischen der Mehrheit und den Minderheiten verläuft, sondern zwischen denen, die für Demokratie einstehen und denen, die sie bekämpfen.

Burak Yilmaz:
Ehrensache.
Kämpfen gegen Judenhass.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2021;
234 Seiten, 16,95 €