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Krieg in der Ukraine : Die nächste Niederlage

Die Welt weist in der UN-Vollversammlung die russische Annexion mit deutlicher Mehrheit zurück. Russland setzt weiter auf Eskalation.

17.10.2022
2024-01-26T12:35:57.3600Z
4 Min

Sollte der russische Präsident auf ein Desinteresse der Welt am Schicksal der Ukraine gesetzt haben, wurde er in der vergangenen Woche eines Besseren belehrt. 143 der 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen stimmten für eine Resolution, die den Versuch Russlands, sich Gebiete der Ukraine einzuverleiben, klar als Völkerrechtsbruch verurteilt und die Annexion für ungültig erklärt.

Klares Votum gegen den Völkerrechtsbruch: Eine unerwartet große Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten verurteilt den russischen Versuch einer kriegerischen Landnahme in der Ukraine.   Foto: picture-alliance/dpa

Nur fünf Länder votierten gegen die Vorlage, 35 enthielten sich. An der Seite mit Russland stimmten Belarus, Nordkorea, Nicaragua und Syrien. Der Beschluss ist völkerrechtlich nicht bindend, zeigt aber die klare internationale Isolation, in die Wladimir Putin sein Land mit dem Angriff auf die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 gebracht hat.

China und Indien blieben wie bereits bei einer Resolution im März zur Zurückweisung der russischen Aggression bei einer Enthaltung und mahnten, dass der Dialog für eine Friedenslösung aufrechterhalten werden müsse. Gleichwohl hat zum Beispiel der Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit im usbekischen Samarkand vor einem Monat gezeigt, dass der russische Präsident nicht allzu viel auf das wohlwollende Stillschweigen beider Länder geben kann. Nach dem Gespräch mit Chinas Staatschef Xi Jinping sah sich Putin zu den Worten veranlasst, für dessen "Fragen und Sorgen" in Bezug auf die Ukraine-Krise Verständnis zu zeigen. Indiens Premierminister Narendra Modi beschied Putin in Samarkand knapp: "Heute ist keine Ära des Kriegs".

Russische Angriffe auf Städte und zivile Infrastrukturen

Der UN-Dringlichkeitssitzung in New York in der vergangenen Woche vorausgegangen war eine neuerliche Eskalation mit russischen Angriffen auf Städte und zivile Infrastrukturen in der Ukraine. Raketen schlugen in Stadtzentren ein, trafen Wohnhäuser, Parks und Kinderspielplätze. Marschflugkörper und Drohnen zerstörten oder beschädigten Wärmekraft- und Elektrizitätswerke. Mindestens 14 Menschen kamen landesweit bei den Angriffen am vorvergangenen Montag ums Leben, mindestens 97 wurden verletzt, wie der ukrainische Zivilschutz mitteilte. Die Angriffe folgten nach einem Anschlag, bei dem - pünktlich zum 70. Geburtstag des russischen Präsidenten - Teile der militärlogistisch wichtigen Krimbrücke an der Straße von Kertsch zwischen Schwarzem Meer und Asowschen Meer zerstört worden waren. Mindestens drei Menschen kamen nach russischen Angaben ums Leben. Russland spricht von einem "Terrorakt" und macht den ukrainischen Militärgeheimdienst dafür verantwortlich.


„Das ist mehr als ein Verbrechen, das ist ein Fehler.“
Olexij Resnikow, Verteidigungsminister der Ukraine

Westliche Beobachter werten die russischen Vergeltungsschläge auf die Ukraine als Zeichen eines fortschreitend enger werdenden Handlungsspielraums für den Kreml. Seine Truppen befinden sich seit Wochen in den besetzten Gebieten auf dem Rückzug, zunächst in der ukrainischen Oblast Charkiw, zurzeit in der ukrainischen Oblast Cherson. Bezweifelt wird auch, dass Russland mit schwerer Artillerie seine Rückschläge wettmachen könne. Die Vorräte an Marschflugkörpern und Raketen sind begrenzt, Neubeschaffung oder Nachschubproduktion wegen der westlichen Sanktionen erschwert.

Das russischen Bombardement ukrainischer Städte dürfte letztlich verstärken, was Moskau zu verhindern trachtet: Die westliche Unterstützung der Ukraine - nun etwa mit Luftabwehrsystemen - wird größer, nicht kleiner. Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow beantwortete den russischen Raketenbeschuss mit einem geflügelten Wort des französischen Diplomaten Talleyrand: "Das ist mehr als ein Verbrechen, das ist ein Fehler."

Hundertausende Russen entziehen sich durch Flucht

Die Ende September verkündete russische "Teilmobilisierung" verläuft ungeordnet und stößt auf verbreiteten Unwillen: Hundertausende Russen entziehen sich dem Risiko, in diesen Krieg hineingezogen zu werden, durch eine Flucht ins Ausland. Auf der anderen Seite rufen in Russland als "Sofa-Soldaten" bezeichnete Hardliner im Fernsehen dazu auf, die zivile Infrastruktur der Ukraine mit einem wochenlang anhaltenden Raketenhagel in Schutt und Asche zu legen, um den Widerstandwillen zu brechen, die ukrainische Armee zu zerschlagen und mit einer Flüchtlingsbewegung zudem europäische Länder unter Druck zu setzen.

Angst vor atomarem Tabubruch

Was die ukrainischen Bewohner der besetzten Gebiete angesichts solcher im russischen Staatsfernsehen offen zur Schau gestellter rhetorischen Eskalation zu fürchten haben, zeigt ein in der vergangenen Woche häufig geteiltes Video in den sozialen Netzwerken, das einen Wortführer der "Volksrepublik Donezk" namens Pawel Gubarew in Kampfmontur zeigt. Ukrainer, die sich der russischen Angliederung widersetzten, seien "Russen, die vom Teufel besessen sind", so eine Worte. "Wir kommen nicht, um Sie zu töten, sondern um Sie zu überzeugen. Aber wenn Sie nicht wollen, dass wir Sie überzeugen, bringen wir Sie um."

Weltweit wächst die Sorge, dass Russland mit einem atomaren Tabubruch wettmachen könnte, was seiner Armee in der Ukraine konventionell nicht gelingt. Der russische Präsident hatte bei der Verkündung der "Teilmobilisierung" davon gesprochen, "alle zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen", wenn die territoriale Integrität Russlands bedroht werde, dabei aber offen gelassen, ob sich diese Drohung auch auf die besetzten Gebiete bezieht. Nach dem Angriff auf die Krimbrücke hat er diese Aussage und auch Rufe aus seinem Umfeld nach dem Einsatz von taktischen Atomwaffen neu kalibriert. Auf weitere "Terroranschläge" würden "harte Antworten" folgen, die "der Ebene der Bedrohungen entsprechen", die für Russland entständen, sagte Putin nun. In der Vergangenheit war die Krimbrücke vom Kreml als "rote Linie" bezeichnet worden. Das 2018 fertiggestellte Bauwerk ist die Lebensader der 2014 von Russland annektierten Halbinsel.

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Westliche Staaten bleiben bei ihrem Kurs, die Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen die russische Aggression zu unterstützen, ohne dabei in eine Auseinandersetzung zwischen Nato und Russland zu geraten. "Wir helfen der Ukraine dabei, ihren Boden zu verteidigen, niemals dabei, Russland anzugreifen", so formulierte es Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auf Twitter. Er und die anderen Staats- und Regierungschefs der G7 wiesen vergangene Woche nach einer Videokonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj die "illegal versuchte Annexion" von vier ukrainischen Regionen durch Russland zurück. Man werde die Annexion nie anerkennen. Die Runde kritisierte auch eine "unverantwortliche nukleare Rhetorik, die den Weltfrieden und die globale Sicherheit aufs Spiel setzt". Jeder Einsatz chemischer, biologischer oder nuklearer Waffen durch Russland würde schwerwiegende Folgen haben, warnte sie. Der Ukraine sicherte die G7 weitere finanzielle, humanitäre und militärische Hilfe zu. Man werde "fest an der Seite der Ukraine stehen, solange es nötig ist".