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Ukrainekrieg : Deutschland im energiepolitischen Unabhängigkeitskampf

Hat die Zeitenwende auch die Energiewende gebracht? 2022 war ein Jahr des Wandels. Dem Ziel der Klimaneutralität ist das Land nicht näher gekommen.

06.03.2023
2024-01-14T14:23:34.3600Z
4 Min

"Zeitenwende" - wohl nirgendwo ist für jeden so spürbar, was das Kanzlerwort meinte, wie im Bereich der Energieversorgung. Deutschland blickt auf ein Jahr zurück, das als historisch gelten darf: In einem beispiellosen Kraftakt hat die größte Volkswirtschaft Europas binnen kürzester Zeit ihre Energieversorgung umgestellt: Anfang 2022 lieferte Russland 55 Prozent des deutschen Erdgases, die Hälfte der Steinkohle und über ein Drittel des Erdöls. Ein Jahr später kommt das Land komplett ohne Energieimporte aus Russland aus.

Putin-Schock zeigt, wie abhängig Deutschland von Russland ist

Erst der Schock über Putins Angriff auf die Ukraine öffnete der Politik hierzulande die Augen dafür, wie weitgehend Deutschland sich in eine über Jahrzehnte gewachsene Energieversorgungs-Abhängigkeit begeben hatte, die spätestens jetzt auch geopolitisch heikel wurde, weil sie Deutschlands Handlungsspielraum einzuengen drohte.

Nach dem russischen Angriff musste die Ampelkoalition ihren Kurs ändern, vom Gestaltungs- in den Krisenmodus wechseln. Das perspektivisch Wünschbare hatte hinter dem akut Notwendigen zurückzutreten. Der erst wenige Monate zuvor unterzeichnete Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP war, wenn nicht Makulatur, so doch zumindest zweitrangig geworden. Die avisierte ambitionierte Klimapolitik inklusive Transformation zu einer grünen Wirtschaft mussten warten. Jetzt ging es um Versorgungssicherheit.

Die Auseinandersetzung mit Putin eskalierte sehr bald, verbal und in der Sache. Die EU verhängte Sanktionen, Putin erklärte den Westen zum Feind und drehte den Gashahn ab, Kanzler Olaf Scholz (SPD) warf ihm vor, Energie als Waffe einzusetzen, Finanzminister Christian Lindner (FDP) sprach vom Energiekrieg um Wohlstand und Freiheit.

Viele Tabus wurden gebrochen

Was dann ins Werk gesetzt wurde - neben milliardenschweren Entlastungs- und Unterstützungspaketen, um die Folgen drastischer Energiepreiserhöhungen für Verbraucher und Industrie abzumildern - war eine Art Energiewende-Wende: Deutschland suchte nach Ersatz für russische Gaslieferungen, wurde bei EU-Freunden fündig, setzte auf die verstärkte Einfuhr amerikanischen Flüssiggases (LNG), baute in einem einmalig beschleunigten Prozess selbst LNG-Terminals an den Küsten, bahnte eine Energiepartnerschaft mit Katar an, nahm ausgemusterte Kohlekraftwerke als strategische Notfallreserve wieder ans Netz und verlängerte die Laufzeit von Atomkraftwerken, die eigentlich zum Ende des Jahres hätten abgeschaltet werden sollen. Mit anderen Worten: Um der Versorgungssicherheit Willen wurde alles unternommen, das alte, fossile System zu ertüchtigen.

Zu diesem Zweck wurde bis hin zur Enteignungen manches Tabu gebrochen - und der Staat mehr und mehr zum Akteur auf dem Energiemarkt. Im April wurde die Betreiberin des größten deutschen Gasspeichers, Germania Gazprom, unter Treuhänderschaft gestellt. Im Juni sprang der Staat bei Uniper, dem größten Gasimporteur Deutschlands ein, übernahm Anteile des Unternehmens und stützte es mit Milliardenhilfen. Und als das Ölembargo die ostdeutsche Raffinerie PCK Schwedt traf, übernahm der Staat auch hier die Kontrolle. Um die Gasspeicher für den Winter zu füllen, übertrug man auch diese Aufgabe dem Staat. Mit Erfolg: Am 14. November war ein Füllstand von 100 Prozent erreicht - so viel wie noch nie. So kam das Land vergleichsweise gut durch den Winter.

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Hat Deutschland den Energiekrieg gegen Putin gewonnen? Es sei zu früh, das zu beurteilen, meinte Habeck jüngst. Aber wenn man davon ausgehe, dass es Putins Ziel gewesen sei, Deutschland und Europa in die Knie zu zwingen, könne man sagen, Putin habe ihn zumindest nicht gewonnen.

Energiepolitisch ist 2022 in Deutschland kaum ein Stein auf dem anderen geblieben. Es war ein Jahr enormen Wandels. Ein Jahr der Wende war es nicht. Denn trotz ambitionierter Zielmarken für den Zubau von Windrädern, Offshore-Windparks und Solaranlagen, trotz Vorgaben für die Bereitstellung von Flächen dafür, trotz der Einstufung des Ausbaus der Erneuerbaren als im "überragenden öffentlichen Interesse" liegend - ein Ende der fossilen Brennstoffe ist nicht abzusehen, die nötige Verdreifachung des Ausbautempos bei Wind und Sonne steht nur auf dem Papier, das Ziel, Deutschland bis 2045 klimaneutral zu machen, bleibt so unerreichbar. Die Probleme und Aufgaben sind riesig.

Es wird teuer

Die Kosten werden gigantisch sein, die Infrastruktur ist mangelhaft, die Kapazitäten der Leitungen sind begrenzt, deren Ausbau aber stockt, die Digitalisierung lahmt. Auf die Frage nach der Dunkelflaute - wo soll der Strom herkommen, wenn kein Wind weht und die Sonne nicht scheint - gibt es keine abschließende Antwort. An der Speicherung überschüssigen Stroms wird noch gearbeitet. Es fehlt an Facharbeitern, überall. Hinzu kommt: Die US-Regierung steckt Milliarden in den Klimaschutz und könnte hierzulande dringend benötigte Investitionen abziehen. Und damit ist noch nicht an die Länder des globalen Südens gedacht, die sich wegen der rasant gestiegenen Nachfrage im Norden das teuer gewordene LNG-Gas nicht mehr leisten können.

Was wird 2023 für ein Jahr? Der Krieg dauert an. Das Ringen um die Energiewende geht weiter.