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Konzept Bürgerrat : Losen statt wählen

Die Befürworter von Bürgerräten werben mit mehr direkter Beteiligung des Souveräns. Doch am Konzept gibt es auch Zweifel.

15.05.2023
2024-03-18T09:24:30.3600Z
6 Min

Als der Bundestag in der vergangenen Sitzungswoche den ersten bundesweiten Bürgerrat zum Thema "Ernährung im Wandel" einsetzte, da prallten das Pro und das Kontra in der Debatte hart aufeinander. Die Abgeordnete Marianne Schieder von der SPD sagte: "Der Bürgerrat ersetzt weder unseren parlamentarischen Auftrag noch gefährdet er ihn." Doch könne er die Demokratie ergänzen, ohne das Prinzip der Repräsentation aufzugeben.

Foto: Mehr Demokratie e.V.

Über einen Zeitraum von zehn Online-Sitzungen und insgesamt 50 Stunden tagte Anfang 2021 der Bürgerrat zu "Deutschlands Rolle in der Welt".

Der CDU-Abgeordnete Steffen Bilger widersprach. Die Ampelkoalition habe offenkundig kein stringentes Konzept für ihre Landwirtschafts- und Ernährungspolitik, sagte er. "Jetzt soll es ein Bürgerrat richten. Das ist nicht mehr als ein Ablenkungsmanöver." Bilger fuhr prinzipiell fort: "Wir stehen zum repräsentativen System. Wir sind kritisch gegenüber allem, was es schwächen könnte. Unser Bürgerrat ist der Wahlkreis." Die Argumente der beiden Parlamentarier bildeten einen Teil jenes Meinungsbildes ab, das ohnehin zu Bürgerräten existiert.

Irland ist Vorreiter bei den Bürgerräten

Thorsten Sterk ist Bürgerrats-Experte bei der Nichtregierungsorganisation "Mehr Demokratie". Die Organisation gehört der Bietergemeinschaft an, die der Bundestag mit der Durchführung des Bürgerrates beauftragt hat. Die ersten Bürgerräte seien im antiken Griechenland entstanden, sagt Sterk. Heute seien die Vorreiter Irland, Frankreich und Großbritannien. Belgien, unter anderem mit einem ständigen Klima-Bürgerrat in Brüssel, die Niederlande und das österreichische Bundesland Vorarlberg seien ebenfalls weit vorn.

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Mittlerweile entdecke man Bürgerräte zunehmend auch in Deutschland. In den vergangenen vier Jahren seien auf lokaler Ebene 85 Bürgerräte einberufen worden, so Sterk. "Die Zahl ist explodiert." Sechs Landesregierungen hätten Bürgerräte in ihren Koalitionsverträgen verankert. SPD, Grüne und FDP zogen 2021 in ihrem Koalitionsvertrag für die Bundesebene nach. Demnach soll der Bundestag in dieser Legislaturperiode drei Bürgerräte einsetzen, der zu "Ernährung im Wandel" ist der erste. "Das ist eine Ergänzung für den demokratischen Prozess - damit die Politik einen Kompass bekommt, wo es für den Querschnitt der Bevölkerung hingehen soll", sagt Sterk von "Mehr Demokratie".

Dabei gebe es freilich zwei Dinge zu beachten. Zunächst gehe es darum, die Bürgerräte möglichst divers zusammenzusetzen. So werden für den Bürgerrat "Ernährung im Wandel" Menschen aus Städten und Gemeinden quer durch Deutschland gesucht. Zwar werden sie ausgelost. Die Initiatoren achten bei ihren anschließenden Anfragen bei potenziellen Teilnehmern aber darauf, dass Geschlechterparität herrscht, alle Altersgruppen berücksichtigt werden und Menschen mit unterschiedlichen Bildungsabschlüssen ebenso vertreten sind wie Bürger ohne und mit Migrationshintergrund.


„Menschen umgeben sich mit ihresgleichen. In Bürgerräten wird durchmischt.“
Thomas Sterk (Mehr Demokratie)

"Im Bundestag sind 87 Prozent aller Abgeordneten Akademiker, in der Bevölkerung sind es aber nur 18 Prozent", sagt Thorsten Sterk. "In Bürgerräten geht es um Diversität, damit keine Perspektive übersehen wird. Denn Menschen umgeben sich gern mit ihresgleichen. In Bürgerräten wird durchmischt." Üblicherweise werden Bürgerräte auch mit Experten-Wissen versorgt - zumindest dann, wenn sie es wünschen.

Keine Verpflichtung, die Empfehlungen zu übernehmen

Wichtig sei zudem, so Sterk, dass Empfehlungen, die Bürgerräte am Ende gäben, "nicht in der Schublade verschwinden". So sollte der Bundestag aus seiner Sicht seinen ersten Bürgerrat kontinuierlich begleiten und sich zu dessen Empfehlungen verhalten. "Es gebietet der Respekt, dass man den Teilnehmern Rückmeldung gibt."

Tatsächlich nehmen Bürgerräte in Zeiten, in denen die Demokratie im Westen zunehmend unter Druck gerät, eine mittlere Stellung ein - nämlich zwischen den Parlamenten einerseits und direkt-demokratischen Instrumenten wie Volksbegehren und Volksentscheiden andererseits. Die Parlamente beteiligen die Bürgerinnen und Bürger, verpflichten sich aber nicht, deren Empfehlungen zu übernehmen. Nicht alle überzeugt dieses Konzept. "Es wäre der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft, der Bürgerbefragungen organisieren, Anhörungen öffentlich wirksam gestalten oder auf Studienfahrt mit organisierter Bürgerbeteiligung hätte gehen können", schrieb Stefan Kornelius in der "Süddeutschen Zeitung" nach der Einsetzung des Ernährungs-Bürgerrats. "In der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes heißt der Bürgerrat immer noch Deutscher Bundestag."

Der Bürgerrat "Ernährung im Wandel"

✍️ Wer ist dabei? Ausgewählt werden per Zufallsprinzip 160 Personen ab 16 Jahren. Beachtet werden soll aber eine ausgewogene Beteiligung nach Alter, Geschlecht, regionaler Herkunft, Gemeindegröße und Bildungshintergrund sowie auch nach der Ernährungsweise.

🤝 Was soll dabei herauskommen? Der Rat soll bis Ende Februar 2024 seine Handlungsempfehlungen vorlegen (Bürgergutachten), die dann vom Plenum beraten und in die Fachausschüsse überwiesen werden sollen.



Derweil ist die Frage, wie Menschen sich ernähren oder ernähren sollten, zwar zunehmend strittig. Dies hat tierethische, gesundheitspolitische- und vor allem klimaschutzpolitische Ursachen. Das Thema "Ernährung im Wandel" ist jedoch wenig kontrovers formuliert.

Bundestagspräsidentin hofft auf Vorschläge, aber auch mehr Verständnis

Vorschläge für Gesetze und mehr Verständnis für parlamentarische Prozesse - das erwartet Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) vom Bürgerrat. Sie verspreche sich eine Bereicherung und Ergänzung der parlamentarischen Demokratie, keinen Ersatz, sagte Bas dem Evangelischen Pressedienst (epd). Erfahrungen aus Kommunen, Ländern und anderen Staaten zeigten, dass Bürgerinnen und Bürger durch solche Gremien Verständnis dafür entwickelten, wie komplex manche Probleme und wie schwierig Kompromisse seien: "Da wächst tatsächlich das Verständnis dafür, dass es in der Politik nicht nur Schwarz oder Weiß gibt", so die Bundestagspräsidentin.

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Die langjährige Grünen-Politikerin und spätere Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen, Marianne Birthler, hat einen in der vorigen Legislaturperiode eingesetzten Modellbürgerrat geleitet, dessen Schirmherr der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) war - und zwar zum Thema: "Deutschlands Rolle in der Welt". Ihre Erfahrungen sind positiv. "Ich war sehr beeindruckt, wie das lief", sagt Birthler. Und dies, obwohl die Beratungen wegen der Corona-Pandemie überwiegend digital stattfinden mussten.

Man habe die wirtschaftliche und die menschenrechtliche Seite der deutschen Außenpolitik in fünf Untergruppen beleuchtet und abschließend in Plenarsitzungen versucht, die Ergebnisse zusammenzuführen. In diesem Prozess seien die von Anfang an Kenntnisreichen mit den weniger Kenntnisreichen sehr solidarisch gewesen, erinnert sich Birthler. "Es herrschte eine sehr wertschätzende Atmosphäre." Einige hätten nachher gesagt: "Ich wusste gar nicht, wie schwierig Politik ist."

Referendum über Abtreibungspolitik

Sie verweist überdies auf das Beispiel Irland, wo ein Bürgerrat einen Volksentscheid zum Thema Abtreibungen vorbereitet und eine Mehrheit für deren Legalisierung gestimmt habe. Bei Volksentscheiden werde sonst gern "die Populismus-Maschine angeschmissen", mahnt Birthler. "Durch einen Bürgerrat wird die Gefahr gebannt." Ein irischer Verfassungsparagraf besagte lange Zeit, dass der Fötus dasselbe Lebensrecht habe wie die Schwangere. Damit waren Abtreibungen faktisch ausgeschlossen. Abtreibungswillige Frauen gingen ins Ausland, überwiegend nach England. Viele Bürger hielten von all dem nicht viel. Die Regierung des katholischen Landes scheute aber eine Korrektur - augenscheinlich aus Rücksicht auf ihre eigenen Wähler. Die seit 2016 bestehende Citizens' Assembly aus 99 Frauen und Männern schlug eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts vor. Bei einem Referendum schloss sich die Mehrheit der Bevölkerung dem an - und entlastete so die Regierung. Das Szenario wiederholte sich in zwei weiteren Fällen.

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Der Fahrplan für den Bürgerrat "Ernährung im Wandel" steht unterdessen fest. Die erste Sitzung ist für September geplant. Teilnehmen sollen 160 zufällig ausgeloste Bürgerinnen und Bürger. In Frage komme jede Person, die mindestens 16 Jahre alt ist und einen Erstwohnsitz in Deutschland hat, heißt es. Das Gremium soll dann zum 29. Februar 2024 ein Bürgergutachten mit Empfehlungen für die Politik erarbeiten.

Marianne Schieder von der SPD sieht dem hoffnungsvoll entgegen, Steffen Bilger von der CDU eher nicht. "Wir werden den Bürgerrat konstruktiv-kritisch begleiten", sagte Letzterer im Plenum. Aber: "Wir lehnen Showveranstaltungen ab." Alles weitere bleibt abzuwarten.