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Tagungssitz Bonn : Das Provisorium am Rhein

Die Entscheidung für Bonn als Sitz des Parlamentarischen Rates fiel in einer Telefonkonferenz. Die Mitglieder des Rats tagten in der Pädagogischen Akademie.

11.04.2023
2024-03-05T13:14:11.3600Z
5 Min
Foto: Bestand Erna Wagner-Hehmke, Stiftung Haus der Geschichte

Interessierte Zuschauer verfolgen am 1. September 1948 die Konstituierende Sitzung des Parlamentarischen Rates in der früheren Pädagogischen Akademie in Bonn.

Für die Bonner war es ein noch gänzlich ungewohntes Polit-Schauspiel, als am 1. September 1948 eine Reihe von Limousinen zur Mittagszeit vor dem mächtigen Bau des Zoologischen Museums Alexander Koenig im Süden der späteren Bundeshauptstadt vorfuhr. Ihnen entstiegen überwiegend ältere Männer in Anzügen, aber auch Uniformierte und kirchliche Würdenträger. Ihr Ziel war der Lichthof des Museums, in dem um 13 Uhr der Festakt beginnen sollte für eine Versammlung von Abgeordneten, deren Aufgabe keine geringere war, als ein Grundgesetz auszuarbeiten und damit den Grundstein für ein neues Staatswesen auf deutschem Boden zu legen.

Die Versammlung setzte sich aus 65 stimmberechtigten Abgeordneten aus den elf Ländern der drei westdeutschen Besatzungszonen zusammen, deren Flaggen den Eingang des Museums Koenig säumten. Hinzu kamen fünf nicht stimmberechtigte Abgeordnete aus West-Berlin. Das Museum, dessen große Halle unter ihrem Glasdach normalerweise Tierpräparate beherbergte, war im Gegensatz zu vielen anderen Gebäuden der Stadt im Zweiten Weltkrieg weitgehend unbeschädigt geblieben und das einzige zur Verfügung stehende geeignete Gebäude mit repräsentativem Charakter. Es sollte später mehreren Bundesministerien in den Anfangsjahren der neuen Republik als Domizil dienen und kurzzeitig auch dem Bundeskanzleramt, nun aber bot es den späteren "Müttern und Vätern des Grundgesetzes" den denkwürdigen Rahmen für ihre Eröffnungssitzung.


„Wohl kaum hat je ein Staatsakt, der eine neue Phase der Geschichte eines großen Volkes einleiten sollte, in so skurriler Umgebung stattgefunden.“
Carlo Schmid (SPD), einer der Väter des Grundgesetzes

Einer der Väter war der SPD-Abgeordnete Carlo Schmid, Tübinger Juraprofessor und Justizminister von Württemberg-Hohenzollern. "Wohl kaum hat je ein Staatsakt, der eine neue Phase der Geschichte eines großen Volkes einleiten sollte, in so skurriler Umgebung stattgefunden", erinnerte sich Schmid später an das Ambiente im Museum Koenig. "Unter den Bären, Schimpansen, Gorillas und anderer Exemplaren exotischer Tierwelt kamen wir uns ein wenig verloren vor."

Tatsächlich waren die ausgestopften Präparate in die Seitengänge geschoben worden und dank dichter Vorhänge nicht zu erkennen. Lediglich eine Giraffe, später "Bundesgiraffe" genannt, musste wegen ihrer Größe, wenn auch verhüllt, im Lichthof verbleiben. Das Gerücht, ihr Kopf habe hervorgeragt und den Festakt von oben beobachtet, bleibt eine der Gründungsanekdoten der Bonner Republik. Die "bizarre Umgebung" ließ laut Carlo Schmid allerdings keine rechte Feierlichkeit aufkommen; von Elisabeth Selbert (SPD), einer der vier "Mütter" des Grundgesetzes, stammt der Vergleich mit einer "Krematoriumsfeier".

Eine ehemalige Einrichtung zur Lehrerbildung

Nach Ansprachen des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Karl Arnold (CDU) und des Vorsitzenden der Ministerpräsidentenkonferenz, Christian Stock (SPD) aus Hessen, machten sich die Abgeordneten auf den Weg zur nahe gelegenen Pädagogischen Akademie, einer Einrichtung zur Lehrerbildung. In der dortigen Aula konstituierte sich das Gremium unter der Bezeichnung "Parlamentarischer Rat", wählte den späteren Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) zu seinem Präsidenten und nahm seine Arbeit auf. Diese endete am selben Ort - dem späteren Plenarsaal des Bundesrates - am 8. Mai 1949 mit der Abstimmung über den Grundgesetz-Text. Am 23. Mai verkündete dort der Parlamentarische Rat in seiner letzten Sitzung das Grundgesetz, am Tag darauf trat es in Kraft.

Begonnen hatte alles damit, dass gut drei Jahre nach Kriegsende, am 1. Juli 1948, die Militärgouverneure der westlichen Alliierten USA, Großbritannien und Frankreich die elf westdeutschen Länderchefs nach Frankfurt am Main bestellten. Im amerikanischen Hauptquartier ging es um die staatliche Zukunft von "Trizonesien". Die Regierungschefs erhielten von den Militärgouverneuren den Auftrag, eine Verfassung auszuarbeiten. Nach anfänglichen Unstimmigkeiten kam es am 26. Juli zur Einigung, dass statt einer verfassunggebenden Versammlung ein "Parlamentarischer Rat" gebildet werden und dieser statt einer Verfassung ein "Grundgesetz" schaffen sollte.

Frankfurt am Main war auch im Rennen

Im Kreis der Ministerpräsidenten blieb indes noch die Frage zu klären, wo denn der Parlamentarische Rat tagen sollte. Hessens Ministerpräsident Christian Stock (SPD) schlug Frankfurt vor, wo auch schon der Wirtschaftsrat der britisch-amerikanischen Bizone tagte und 1848/49 die erste deutsche Nationalversammlung ihren Sitz hatte. Der Rheinland-Pfälzer Peter Altmeier (CDU) bot Koblenz an, Niedersachsens Ministerpräsident Hinrich Wilhelm Kopf (SPD) empfahl Celle. Der Ministerpräsident von Württemberg-Baden, der Liberale Reinhold Maier, machte sich für Karlsruhe stark.

Die Amerikaner hätten einer Stadt im Rhein-Main-Gebiet den Vorzug gegeben, beugten sich aber schließlich dem Wunsch der Briten, auch einmal eine Stadt in ihrer Zone mit einer so wichtigen Konferenz zu betrauen. Ministerpräsident Arnold schwebte eine Stadt am Rhein vor und dachte zunächst an Düsseldorf oder Köln. Dass Bonn ins Blickfeld rückte, ist Arnolds Mitarbeiter Hermann Wandersleb zu verdanken, dem Chef der nordrhein-westfälischen Landeskanzlei.

Bonner Gastfreundschaft

Wandersleb hatte 1947 in Bonn eine Lehrveranstaltung für Verwaltungsbeamte abgehalten und sich erinnert, dort sehr gastfreundlich aufgenommen worden zu sein. In einer Kabinettssitzung am 5. Juli in Düsseldorf brachte er die Universitätsstadt erstmals ins Gespräch. Arnold kam es darauf an, eine weniger zerstörte Stadt zu finden, die genügend Tagungs- und Übernachtungsmöglichkeiten bot. Köln war im Krieg stark zerstört worden und lehnte ab, auch Düsseldorf reagierte zögerlich auf die Anfrage. Nicht dagegen Bonn, das reges Interesse zeigte und bekundete, alles zu tun, um die Abgeordneten unterzubringen.

Am Freitag, dem 13. August, ließ Christian Stock als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz über den Tagungsort des Parlamentarischen Rates abstimmen - telefonisch. Zur Auswahl standen Frankfurt, Karlsruhe, Celle und Bonn; Koblenz hatte seine Kandidatur zurückgezogen. Von den elf Regierungschefs stimmten acht für Bonn, Reinhold Maier und der am selben Tag erst ins Amt gewählte Gebhard Müller (Württemberg-Hohenzollern) für Karlsruhe, Hinrich Wilhelm Kopf für Celle.

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Bonn schien geeignet, die Entscheidung über den künftigen Regierungssitz offenzuhalten und den provisorischen Charakter der Gründung eines "Weststaates" zu symbolisieren. Neben der Pädagogischen Akademie als Tagungsstätte besaß Bonn eine ausreichende Anzahl an Unterkünften, eine intakte Universitätsbibliothek und nahe gelegene, attraktive Kurorte. Hier konnte man, wie der CSU-Parlamentarier Karl Sigmund Mayr feststellte, "in Ruhe seine Arbeit verrichten".

Die Pädagogische Akademie, die im August 1948 in kürzester Zeit für den Parlamentarischen Rat hergerichtet wurde, war zwischen 1930 und 1933 im Stil der "Neuen Sachlichkeit" am Rhein im Bonner Süden erbaut worden. Der Lehrbetrieb wurde in die umgebaute Karlschule in der Bonner Nordstadt verlagert. Aus den Klassenzimmern wurden Fraktionsräume. Die Fraktionsvorsitzenden und der Ältestenrat tagten im "Roten Salon", dem einstigen Direktorbüro der Akademie. Carlo Schmid zufolge hatte Adenauer dort immer ein paar Flaschen Wein, um "ein stockendes Gespräch wieder in Gang zu bringen".

Büroräume gab es keine 

Dennoch waren die Abgeordneten mit den Arbeitsbedingungen nicht vollends zufrieden. Abgeordnetenbüros standen nicht zur Verfügung, es gab keinen wissenschaftlichen Apparat und keine wissenschaftlichen Assistenten für die Fraktionen. Die Landesminister im Parlamentarischen Rat konnten auf ihre heimischen Verwaltungsbeamten zurückgreifen. Ohne deren Unterstützung, erinnerte sich Carlo Schmid, "hätte der Parlamentarische Rat seine Arbeit nicht in so kurzer Zeit durchführen können".

Ende 1948 beauftragte die nordrhein-westfälische Landesregierung den Düsseldorfer Architekten Hans Schwippert damit, einen Plan für den Umbau der Akademie zu einem dauerhaften Parlamentsgebäude, dem späteren Bundeshaus, anzufertigen. Im Februar 1949 begannen die Bauarbeiten, ohne dass sicher war, ob Bonn künftiger Parlamentssitz sein würde. Bonn und Nordrhein-Westfalen hofften auf die Macht des Faktischen.

Volker Müller ist freier Journalist in Berlin.