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60 bewegte Jahre in Ost und West

CHRONIK Widerstand prägte die Geschichte beider deutschen Staaten unterschiedlich

03.01.2011
2023-08-30T12:16:34.7200Z
6 Min

50er Jahre

Gegen die Wiederbewaffnung:

"Ohne mich!" war nach 1945 ein geflügeltes Wort in Nachkriegsdeutschland. Es wandte sich nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus gegen die Remilitarisierung Westdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Als 1949 die Wiederbewaffnungsdiskussion in der Bundesrepublik begann - im Bemühen der Adenauer-Regierung um einen westdeutschen Beitrag zum westlichen Verteidigungsbündnis gegen den Ostblock - verstärkte sich diese Haltung. Letztlich konnte die Regierung die Wiederbewaffung nur gegen heftige Proteste durchsetzen.

Aufstand in der DDR:

Während es in Westdeutschland freie Wahlen gab und sich die Demokratie entwickelte, festigte die SED in der DDR ihr autoritäres Regime. Dagegen regte sich Widerstand, viele Menschen im Arbeiter- und Bauernstaat waren unzufrieden. Mit dem Tod Stalins im März 1953 verbanden sie die Hoffnung, dass sich die Lebensumstände verbessern könnten. Doch diese erfüllten sich nicht: Nach wie vor herrschte Mangelwirtschaft. Hinzu kam der Beschluss der Staatsführung, die Arbeitsnormen übermäßig zu erhöhen. An den Tagen um den 17. Juni 1953 entlud sich die Frustration der Arbeiter. Es kam zu einer Welle von Streiks, Demonstrationen und Protesten, die als Volksaufstand des 17. Juni in die Geschichte eingingen. Der Aufstand wurde schließlich unter Beteiligung sowjetischer Truppen gewaltsam niedergeschlagen.

60er Jahre

Notstandsgesetze und Studentenproteste:

Die 1960er Jahre waren ein Jahrzehnt des Wandels, das maßgeblich von der studentischen Protestbewegung getragen wurde. Studenten, aber auch Menschen aus anderen Teilen der Bevölkerung empörten sich über die geplanten Notstandsgesetze. Viele fühlten sich angesichts einer großen Koalition und einer schwachen parlamentarischen Opposition nicht vom Bundestag vertreten und bildeten die so genannte "Außerparlamentarische Opposition" (APO). Die Gegner einte die Befürchtung, dass die umstrittenen Notstandsgesetze ähnliche Konsequenzen haben könnten wie seinerzeit das Ermächtigungsgesetz, das 1933 den Weg für die nationalsozialistische Diktatur geebnet hatte. Die Regierung wollte mit der Änderung des Grundgesetzes die Handlungsfähigkeit des Staates in Krisensituationen sichern. Außerdem waren die Notstandsgesetze eine Bedingung der Westmächte, die ihre stationierten Streitkäfte schützen wollten. Nach Verabschiedung der Gesetze am 30. Mai 1968 gingen 300.000 Demonstranten in Bonn auf die Straße. Die Notstandsgesetze wurden zwar verabschiedet, kamen jedoch nicht zur Anwendung.

70er Jahre

Proteste gegen das Kraftwerk Wyhl:

Kurz nachdem der Bau eines Atomkraftwerks in Wyhl angekündigt worden war, gründeten sich in den umliegenden Ortschaften und im Elsass Initiativen, die vor allem die Auswirkungen der radioaktiven Emissionen und des warmen Abwassers auf die Umwelt fürchteten. 1975 besetzten Kraftwerksgegner die Baustelle. Es folgte ein langer Rechtsstreit, begleitet von Protestaktionen. Höhepunkt: Nachdem der Verwaltungsgerichtshof den Bau 1982 wieder für rechtens erklärt hatte, fand in Wyhl eine Kundgebung mit mehr als 30.000 Kernkraftwerks-Gegnern statt, bei dem Landwirte an der Seite von Akademikern friedlich auf die Straße gingen. Der Widerstand zeigte Wirkung: 1983 erklärte Ministerpräsident Lothar Späth (CDU) überraschend, das Kernkraftwerk Wyhl sei nicht mehr nötig.

80er Jahre

Startbahn-West:

Mit der Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs 1980, den Frankfurter Flughafen um eine neue Startbahn zu erweitern, endete eine fast zehnjährige gerichtliche Auseinandersetzung. Der Widerstand vor Ort hingegen spitzte sich zu. Die Startbahngegner argumentierten mit rückläufigen Flugzahlen und der Ölkrise gegen einen weiteren Ausbau. Am 14. November 1981 demonstrierten in Wiesbaden mehr als 120.000 Menschen gegen die Startbahn-Pläne. Dem Landeswahlleiter wurden 220.000 Unterschriften für ein Volksbegehren übergeben, das der hessische Landtag jedoch zurückwies. Am 12. April 1984 wurde die neue Startbahn in Betrieb genommen.

Einen tragischen Höhepunkt fand die Auseinandersetzung erst nach Eröffnung der Startbahn. Am 2. November 1987 erschoss ein Mitglied einer militanten Gruppe während einer Demonstration zum Jahrestag der Räumung des Hüttendorfs mit einer geraubten Dienstwaffe zwei Polizeibeamte. Neun Beamte wurden verletzt. Der Täter wurde später wegen Totschlags verurteilt.

NATO-Doppelbeschluss:

Anfang bis Mitte der 1980er Jahre erhitzte der so genannte NATO-Doppelbeschluss die Gemüter. Er sah die Stationierung von atomar bestückten US-amerikanischen Mittelstreckenraketen (Pershing II) und Marschflugkörpern vom Typ AGM-86 Cruise Missile in Europa als Antwort auf die Stationierung der neuen sowjetischen SS 20-Raketen vor. Die Friedensbewegung, die seit den 1950er Jahren stagniert und die Bevölkerung kaum erreicht hatte, erlebte eine neue Hochzeit. Den Höhepunkt der Proteste bildete am 10. Juni 1982 eine Demonstration mit rund 500.000 Menschen in Bonn anlässlich des Staatsbesuchs von US-Präsident Ronald Reagan. Nach dem Nato-Doppelbeschluss entstand innerhalb von Monaten eine Massenbewegung mit vielen neuen, organisatorisch und ideologisch unabhängigen Bürgerinitiativen. Schließlich stimmte der Bundestag Ende 1983 trotz der Massenproteste für den Beschluss.

Volkszählung von 1987:

Anfang der 1980er Jahre kündigte die Regierung eine bundesweite Volkszählung an. Die Zählung, die für den 27. April 1983 geplant war, wurde zunächst bis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 1983 ausgesetzt, dann schließlich untersagt. Die erfolgreichen Kläger hatten beanstandet, dass die Fragen in den entsprechenden Volkszählungsbögen zu ausführlich seien. Die Antworten könnten Rückschlüsse auf die Identität der Befragten zulassen und somit den Datenschutz unterlaufen - ein Verstoß gegen das Grundgesetz. Viele befürchteten außerdem den "gläsernen Bürger". Andere sahen die Volkszählung sogar als ersten Schritt in Richtung Überwachungsstaat und riefen daher zum Boykott auf. Mit seinem historischen Volkszählungsurteil formulierte das Bundesverfassungsgericht schließlich das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Für den Zensus, der 1987 trotz der Proteste stattfand, wurden die Fragebögen überarbeitet.

Hafenstraße:

Seit Beginn der Hausbesetzungen, vor allem in der Zeit zwischen 1984 und 1990, ist die Geschichte der Hamburger Hafenstraße im Stadtteil St. Pauli verbunden mit dem Symbol des "Widerstandes gegen den Staat". Linksradikale träumten dort von einem "rechtsfreien Raum". Ausgangspunkt: Ein Teil der Häuser sollte aufgrund eines Baugutachtens abgerissen werden, um die Grundstücke gewinnbringend zu verkaufen. Seit den ersten Hausbesetzungen 1981 blieb die Lage gespannt und führte bis in die 1990er Jahre zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Heute werden die Wohnungen von einer Genossenschaft verwaltet. Das Zusammenleben gestaltet sich inzwischen weitgehend friedlich.

Montagsdemonstrationen in der DDR:

Anders als in der Bundesrepublik hatte es seit 1953 in der DDR jahrzehntelang keine Massenproteste mehr gegeben. Nach den blutig niedergeschlagenen Aufständen in der DDR 1953 und Ungarn 1956 sowie der gewaltsamen Beendung des Prager Frühlings 1968 und der Verhängung des Kriegsrechts in Polen von 1981 bis 1983 hatten sich viele Menschen kaum noch auf die Straße gewagt. 1989 sollte sich dies ändern.

Die Massendemonstrationen begannen am 4. September in Leipzig und setzten sich auch in anderen Städten der DDR fort - in Dresden, Halle, Karl-Marx-Stadt, Magdeburg, Plauen, Arnstadt, Rostock, Potsdam und Schwerin. Mit dem Ruf "Wir sind das Volk" meldeten sich Woche für Woche an Montagen und auch an anderen Wochentagen hunderttausende DDR-Bürger im ganzen Land zu Wort und protestierten gegen Unterdrückung und Unfreiheit. Ziel war eine friedliche, demokratische Neuordnung - und das Ende der SED-Herrschaft. Am 9. November fiel schließlich die Mauer.

90er Jahre

Gegen Ausländerfeindlichkeit:

Kurze Zeit nach der Wiedervereinigung wurde die allgemeine Euphorie schwer erschüttert: Die Brandanschläge auf Asylantenheime in Rostock-Lichtenhagen vom August 1992 gehören zu den massivsten ausländerfeindlichen Ausschreitungen der deutschen Nachkriegsgeschichte. Am 29. August 1992 fand in Lichtenhagen eine Demonstration unter dem Motto "Stoppt die Pogrome" mit 15.000 Teilnehmern statt und läutete damit den Protest einer breiten Bewegung aus der Mitte der Gesellschaft ein. Zum Konzert der Rockgruppe BAP "gegen Rassismus und Neonazis" kamen am 9. November 1992 100.000 Menschen nach Köln. Im Dezember 1992 gingen überall in Deutschland Bürger auf die Straßen und bildeten als Zeichen ihres Protests gegen Rechtsextremismus Lichterketten.

00er Jahre

Golfkrieg:

Am 20. März 2003 befahl der damalige amerikanische Präsident George W. Bush die Invasion des Iraks und begann damit den dritten Golfkrieg. Offiziell diente er als Präventivschlag gegen angebliche Massenvernichtungswaffen im Irak. Gleichzeitig war es der erste Krieg der Menschheitsgeschichte, dem noch vor seinem Ausbruch Protestdemonstrationen vorausgingen. Auch in Deutschland gingen am 15. Februar 2003 hunderttausende Menschen in Großstädten auf die Straßen, um zusammen mit weltweit insgesamt neun Millionen Menschen in der größten Friedensdemonstration der Geschichte gegen den Krieg zu protestieren.

Der Autor arbeitet als freier Journalist in Berlin.