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Kurz notiert

30.04.2012
2023-08-30T12:17:30.7200Z
4 Min

Nach dem Jahr 2000 gingen die Berichte über den Bundestag in den Medien im Vergleich zu den 1990er Jahren signifikant zurück: genau um die Hälfte. Betroffen von dieser Entwicklung sind allerdings nicht nur das Fernsehen oder die Boulevardpresse, sondern auch Qualitätszeitungen wie die "Frankfurter Allgemeine" und die "Süddeutsche Zeitung". Der Dresdener Politikwissenschaftler René Jainsch geht in seiner empirischen Forschungsarbeit zur Berichterstattung über den Bundestag und das britische House of Commons den Ursachen für diese Entwicklung auf den Grund.

Die wichtigste und länderübergreifend zu beobachtende Entwicklung betrifft nach Jainsch die Kommerzialisierung und Boulevardisierung der Medien. Dies führe zu einem Wandel der politischen Berichterstattung in Richtung Unterhaltung. Zudem attestiert er den Parlamenten in Europa einen allgemeinen Bedeutungsverlust. Im Zuge der europäischen Integration hätten die Volksvertretungen zunehmend nationale Kompetenzen an Brüssel und Straßburg abgegeben. Außerdem würden politische Entscheidungen heute weniger mit dem Parlamentsgeschehen in Verbindung gebracht, sondern eher mit Koalitionsrunden. Parallel dazu hätten sich in einem inflationären Ausmaß Polit-Talkshows in der Fernsehlandschaft etabliert. Mit ihnen sei ein konkurrierendes Forum geschaffen worden, das ein deutlich größeres Publikum erreiche als etwa eine Bundestagsdebatte. All dies erschwere es den Parlamenten, den Weg in die Berichterstattung zu finden, resümiert der Politikwissenschaftler.

Mit Hilfe einer umfassenden Codierung wertete Jainsch die Inhalte der Berichterstattung aus. Sein Fazit: Die Parlamentsberichterstattung ist heute weniger vielfältig, weniger tiefgehend und weniger authentisch. Bemerkenswert sei, dass die Abgeordneten mit der Professionalisierung ihrer strategischen Kommunikation durch Fernsehauftritte, Pressekonferenzen und Interviews selbst zum Bedeutungsverlust der Parlamente beitragen.

René Jainsch:

Im Schatten der Talkshows?

Nomos Verlag, Baden-Baden 2012; 175 S., 29 €

Klassentreffen können sehr unangenehm sein. Das muss auch der Journalist Christoph Ruf feststellen. Als er 18 Jahre nach dem Abitur seine einstigen Klassenkameraden bei einer Grillparty wiedertrifft, schwelgen sie erst in Erinnerungen an die gute alten linken Zeiten - um dann zu beklagen, dass die deutsche Linke heute nicht mehr allzu viel tauge. Aber was heißt das eigentlich heute noch: "links sein"? Ruf macht sich auf die Suche. Ein Jahr lang tummelt er sich unter Sozialdemokraten, Grünen und Mitgliedern der Linkspartei. Er beschreibt deren Frust nach dem schwarz-gelben Wahlsieg vor drei Jahren, trifft Gewerkschafter, die sich über die Verbohrtheit ihrer eigenen Organisation ärgern, und erlebt die Aufbruchstimmung unter Linken, die sich mit dem Absturz der Koalition aus CDU, CSU und FDP verbreitet.

Das ergibt einerseits eine politische Milieustudie, andererseits ein sehr persönliches Zeugnis. Denn Ruf bemüht sich gar nicht erst um Distanz oder Objektivität. Sein Buch ist weniger Reportage als vielmehr ein reportageartiger Kommentar zur Lage der Linken und der deutschen Politik im Allgemeinen. Hier trauert jemand der Vor-Schröder-SPD nach, fremdelt mit den Grünen, weil sie ihm oft zu bürgerlich-liberal sind, und kokettiert mit der Linken, weil sie sich als einzige Partei konsequent links gibt. Am Ende mündet das Buch in einem Plädoyer für eine rot-rot-grüne Koalition: Linke dieses Landes, vereinigt Euch! Das ist einerseits sehr sympathisch: Hier schreibt jemand, der seine Sache mit voller Überzeugung vertritt, dabei aber selbstkritisch bleibt. Andererseits zeigt sich ein Links-Rechts-Muster, wie man es aus den Hochkampfzeiten der alten Bundesrepublik und des Kalten Krieges kennt: Hier stehen die prinzipiell "guten" Linken, also SPD, Grüne und Linkspartei; dort die "bösen" Neoliberalen, also Union und FDP, mit denen man niemals und unter keinen Umständen koalieren darf. Das ist allzu simpel gestrickt und weit entfernt von der Wirklichkeit. Auch Ruf beweist, wo die Crux vieler Linker liegt: dass sie in alten Denkmustern steckengeblieben sind.

Christoph Ruf:

Was ist links? Reportagen aus einem politischen Milieu.

C.H. Beck Verlag, München 2011; 253 S., 12,95 €