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Das dritte Geschlecht

INTERSEXUALITÄT Experten fordern rechtliche Anerkennung

02.07.2012
2023-08-30T12:17:34.7200Z
3 Min

Das Votum der geladenen Sachverständigen war einhellig und eindeutig: Operationen zur Geschlechtsfestlegung bei intersexuellen Kindern stellen einen Verstoß gegen das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit dar und müssen zukünftig unterbunden werden. Der Familienausschuss hatte in der vergangenen Woche medizinische und juristische Experten sowie Vertreter von Selbsthilfevereinen geladen, um mit ihnen über ein Thema zu beraten, dass in der Gesellschaft lange Zeit mit einem Tabu belegt war: Intersexualität.

Grundlage der Anhörung stellte die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zum Thema Intersexualität (17/9088) dar. Zur Diskussion stand zudem ein Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (17/5528), der einen verbesserten Schutz der Grundrechte intersexuelle Menschen einfordert.

Die Medizin spricht von Intersexualität, wenn ein Mensch genetisch und/oder anatomisch und hormonell nicht eindeutig dem weiblichen oder dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden kann. Geläufige Bezeichnungen für intersexuelle Menschen sind auch "Hermaphroditen" und "Zwitter". Nach wissenschaftlichen Schätzungen leben zwischen 80.000 und 120.000 intersexuelle Menschen in Deutschland. Diese stellen aber keine homogene Gruppe dar, rund 4.000 Varianten von geschlechtlicher Differenzierung sind bekannt.

Die Experten schlossen sich der Stellungnahme und den Forderungen des Ethikrates weitgehend übereinstimmend an. Vor allem dürfe Intersexualität nicht länger als eine Krankheit angesehen werden. Die Rechtswissenschaftlerin Konstanze Plett von der Universität Bremen führte an, dass die unteilbaren Menschenrechte ab der Geburt Geltung hätten. Zu diesen Menschenrechten gehöre unzweifelhaft die körperliche Unversehrtheit. Ein fremdbestimmter körperlicher Eingriff dieses Ausmaßes sei deshalb nicht hinzunehmen. Allenfalls wenn es um die Frage von Leben oder Tod gehe, sei dies statthaft. Erst wenn ein Kind sich unzweifelhaft selbst äußern könne, dürfe eine Entscheidung über eine Operation gefällt werden. Zudem müsse sichergestellt werden, dass die Entscheidung des Kindes für das eine oder andere Geschlecht ohne Beeinflussung von außen, etwa durch die Eltern, getroffen wird. Dies könne etwa durch ein Familiengericht geprüft werden.

Lucie Veith, Vorsitzende des Vereins Intersexuelle Menschen aus Neu-Wulmstorf, schloss sich diesem Plädoyer an: Weder Eltern, Ärzte, Psychologen noch ein Parlament hätten das Recht, das Geschlecht eines Menschen zwangsweise festlegen zu lassen. Jörg Woweries, Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, führte an, dass es keinen medizinischen Beweis dafür gebe, dass eine Operation zur Geschlechtsfestlegung bei Kleinkindern ungefährlicher oder erfolgversprechender sei als bei einem Erwachsenen. In jedem Fall aber seien operative Eingriffe mit einem sehr hohen Risiko behaftet und stellten einen tiefen Eingriff in die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen dar. In jedem Fall müsse vor jeder Operation eine neutrale Beratung stattfinden.

Für deutlich verbesserte Beratungsangebote für die Eltern intersexueller Kinder sprach sich Julia Marie Kriegler von der Elterngruppe der XY-Frauen aus. Sie berichtete dem Ausschuss von ihren eigenen Erfahrungen mit einem nunmehr sechsjährigen intersexuellen Kind. Eltern seien nach der Geburt mit einer solchen Situation völlig überfordert. Vor allem dürften sie jedoch nicht von Ärzten und Behörden zu einer schnellen Entscheidung gedrängt werden. Die Gesellschaft müsse erst langsam lernen, dass es neben den beiden "klassischen" Geschlechtern auch ein drittes Geschlecht gebe. "Das Ungewöhnliche muss Normalität werden können", forderte Kriegler.

Einmütig stellten die Experten zudem fest, dass das deutsche Personenstandsrecht nicht den Bedürfnissen von intersexuellen Menschen Rechnung trägt. Michael Wunder von der Evangelischen Stiftung Alsterdorf in Hamburg und Mitglied im Deutschen Ethikrat sprach sich dafür aus, neben den Eintragungen "männlich" und "weiblich" auch die Eintragung "anderes" zu ermöglichen. Woweries regte an, auf eine Geschlechtsfestlegung im Personenstandsrecht bis zur Volljährigkeit ganz zu verzichten.

Der Rechtswissenschaftler Tobias Helms von der Universität Marburg wies jedoch darauf hin, dass Änderungen im deutschen Recht auch zu Problemen im internationalen Rechtsverkehr führen könnten. So müssten deutsche Behörden und Gerichte auf die in Deutschland lebenden Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit auch weiterhin das ausländische Recht anwenden, das Angaben zum Geschlecht vorsieht. Umgekehrt könnten deutsche Staatsangehörige in familienrechtlichen Angelegenheiten Probleme im Ausland bekommen, wenn ihre Geschlechtszugehörigkeit im Personenstandsregister nicht festgelegt sei.

Diesem Einwand widersprach Konstanze Plett. Sie verwies darauf, dass Deutschland auch die eingetragenen Lebenspartnerschaften für Homosexuelle ermöglicht habe, obwohl dies in vielen ausländischen Staaten bis heute nicht vorgesehen sei.