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Mehr Schulden als die Griechen

WIRTSCHAFT Mit der Alterung droht auch eine Explosion der Sozialkosten. Die deutsche Politik muss schnell die Bremsen ziehen.

06.08.2012
2023-08-30T12:17:36.7200Z
5 Min

Die Hände in den Schoß legen und der Dinge harren, die da kommen werden, wird nicht funktionieren: "Ohne Konsolidierungsschritte läge die Schuldenstandsquote im Jahr 2060 bei etwa 270 Prozent", stellt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in einem Sondergutachten zur Demografie fest. Werde trotz sinkender Bevölkerungszahlen nichts unternommen, werde es massive Verteilungsprobleme geben, "da zukünftige Generationen dadurch zu stark belastet würden". 270 Prozent sind eine Zahl, die selbst die Werte europäischer Schuldensünder wie Griechenland (Ende 2011 165 Prozent) oder Italien (120 Prozent) in den Schatten stellen würde.

Die Probleme kommen noch

Deutschlands Verschuldungsgrad liegt derzeit bei rund 81 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Das Bruttoinlandsprodukt ist der Wert aller in einem Jahr erwirtschafteten Waren und Dienstleistungen; 2011 waren das 2,6 Billionen Euro. Die versammelten Staatsschulden von Bund, Ländern und Gemeinden betrugen 2,1 Billionen Euro. Würde der Schuldenstand, der nach allen heutigen politischen Aussagen sinken soll, sich im Gegenteil weiter erhöhen und die 270 Prozent-Grenze erreichen, hätte Deutschland (nach BIP von heute) sieben Billionen Euro Schulden. Zur Erinnerung: Der Vertrag von Maastricht erlaubt einen Schuldenstand von gerade einmal 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Die eigentlichen Probleme kommen also erst noch nach dem Ende der Euro- und Finanzkrise: "Die Babyboomer sind heute etwa 47 Jahre alt, in 13 Jahren sind sie 60, das wäre also 2025, und dann gehen sie sukzessive in Rente. Und 2030 sind die allermeisten in der Rente. Die Übergang wird extrem schwierig für Deutschland", erwartet der Münchener Ökonom Hans-Werner Sinn vom Ifo-Institut.

Bevölkerungsrückgang

Die Zahlen sprechen für den Ökonomen. Ohne Ausgleich durch Zuwanderungen könne die deutsche Bevölkerung bis 2060 von derzeit knapp 82 Millionen um 24 Millionen abnehmen, heißt es im Gutachten des Sachverständigenrates. Gemildert würde der Bevölkerungsrückgang aber durch einen positiven Wanderungssaldo: Wenn pro Jahr 100.000 Ausländer mehr nach Deutschland ziehen würden als Menschen das Land verlassen, beläuft sich der Rückgang auf 17 Millionen. Würden 200.000 Menschen mehr nach Deutschland ziehen als abwandern, könnte der Rückgang auf zwölf Millionen begrenzt werden. "Wollte man die Bevölkerungszahl konstant halten, bedürfte es eines Wanderungssaldos in der Größenordnung von schätzungsweise rund 350.000 Personen, und zwar jährlich über fünf Jahrzehnte", schreiben die Wissenschaftler.

Parallel zum Bevölkerungsrückgang steigt die Lebenserwartung, das heißt, die Zahl der älteren Menschen wird größer. Damit die schrumpfende und älter werdende Bevölkerung die Lasten schultern kann, sind aus Sicht der Sachverständigen mehrere Maßnahmen notwendig: So müsse an der Rente ab 67 Jahren ab 2029 unbedingt festgehalten werden. In den Jahren 2045 und 2060 müsse das Renteneintrittsalter sogar auf 68 beziehungsweise 69 Jahre angehoben werden. Dem Rückgang der Zahl der Erwerbspersonen könne außerdem entgegengewirkt werden, indem die Frauenerwerbstätigkeit erhöht und das Eintrittsalter in eine Erwerbstätigkeit vorverlegt wird. Die weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters würde "zu einem sich selbst stabilisierenden Rentensystem führen", erwarten die Sachverständigen. Die Zuschüsse des Bundes an die Rentenkasse müssten aber trotzdem kräftig steigen.

Dabei haben bereits die Reformen am Rentensystem in der jüngeren Vergangenheit und Lücken in den Berufsbiografien dazu geführt, dass die Rentenansprüche gerade der Generation der Babyboomer schon jetzt auf Talfahrt sind. So rechneten das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung und die Deutsche Rentenversicherung in einer gemeinsamen Studie vor, dass in Ostdeutschland zwischen 1956 und 1965 geborene Männer eine Monatsrente von 794,50 Euro zu erwarten haben. Wären sie zwischen 1936 und 1945 geboren, kämen sie dagegen auf 1.043 Euro. Ebenfalls enttäuschend wird die Entwicklung in den alten Bundesländern für Frauen der Babyboomer-Generation verlaufen. Sie haben im Durchschnitt eine Rente von 656,50 Euro zu erwarten, kaum mehr als die zwischen 1936 und 1945 geborenen Frauen. Die Entwicklung ist um so erstaunlicher, da der Anteil der erwerbstätigen Frauen stark zugenommen hat. Der SPD-Sozialexperte Anton Schaaf fordert bereits, das Ausmaß des Rentenrückgangs zu begrenzen.

Dass es auf der Einnahmenseite zu Verbesserungen kommt, mit denen die Ausgabenlasten abgefangen werden könnten, glauben die Wirtschaftsexperten nicht. Das Wachstum der Steuern hänge maßgeblich vom Wachstum des Bruttoinlandsprodukts ab, "das in Zukunft geringer ausfallen dürfte". Man gehe daher von einem "stabilen Verlauf der Einnahmequote" aus. Schon in der jüngeren Vergangenheit waren die Zuwachsraten beim Bruttoinlandsprodukt immer geringer geworden. Stieg es zwischen 1991 bis 2001 jährlich noch um durchschnittlich 1,7 Prozent, so betrug dieser Wert zwischen 2001 und 2010 noch 0,8 Prozent. Erwartet werden für die Zukunft ähnlich niedrige Wachstumsraten.

Dafür steckt in der Ausgabenseite noch mehr Dynamik. Neben dem Rentensystem werden auch der Gesundheitsbereich und die Pflegeversicherung als hochproblematisch angesehen. In der Rentenversicherung wird bis 2060 von einer Verdoppelung der Ausgaben auf 433 Milliarden Euro ausgegangen. Auch die Kosten der Beamtenversorgung sollen sich in diesem Zeitraum auf 74 Milliarden Euro jährlich verdoppeln. Die Gesetzliche Krankenversicherung wartet mit ähnlichen Steigerungsraten auf. Die Ausgaben sollen auf 309 Milliarden Euro bis 2060 steigen, was einem Anstieg um 95 Prozent entspricht. In ähnlicher prozentualer Größenordnung dürften die Kosten der Pflegeversicherung auf 37 Milliarden Euro steigen.

Beitragsexplosion

Folge: Die Beiträge müssen angehoben werden. Lag der gesamte Sozialversicherungsbeitrag Ende 2010 bei 39,7 Prozent, so müsste er bis 2060 auf 48,2 Prozent steigen, und er würde sogar über die 50-Prozent-Marke klettern, wenn die Zuschüsse des Bundes nicht weiter angehoben werden. Dabei sind die Prognosen für die Kranken- und Pflegeversicherung noch mit einer besonderen Unsicherheit behaftet: Die Ausgaben dieser beiden Sozialversicherungszweige bestehen überwiegend aus Sachleistungen, deren zukünftige Preise nicht zu kalkulieren sind. "Hinzu kommt die Unsicherheit darüber, in welcher Form der medizinisch-technische Fortschritt Eingang in den Leistungskatalog der jeweiligen Sozialversicherung findet", schreiben die Experten.

Da eine solche Erhöhung nicht verkraftbar erscheint, muss die "Tragfähigkeitslücke" (Differenz zwischen staatlichen Einnahmen und staatlichen Ausgaben) anders geschlossen werden. Aber auch Steuererhöhungen bereiten den Experten Kopfzerbrechen. Die Tragfähigkeitslücke wird bei 3,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gesehen, was etwa 80 Milliarden Euro entspricht. Um die Lücke zu schließen, müssten entweder alle Abgaben um 8,2 Prozent erhöht oder alle Ausgaben um 7,2 Prozent reduziert werden, stellen die Wissenschaftler fest und verlangen schnelle Maßnahmen. Denn je länger gewartet werde, desto tiefer müsse in die Taschen der Bürger gegriffen werden, oder es müssten noch stärker Leistungen reduziert werden.

Eine vollständiges Schließen der Tragfähigkeitslücke ließe sich vermutlich auf der Einnahmeseite nur durch ein Bündel von Steuer- und Abgabenerhöhungen erreichen. Um die Lücke von 3,1 Prozent um einen Prozentpunkt zu verringern, müsste nach Berechnungen der Experten bei der Einkommensteuer der untere Proportionalsteuersatz auf 67 Prozent und der Reichensteuersatz auf 70 Prozent ansteigen. Die Erhöhung der beiden Sätze auf diese Werte wird jedoch für unrealistisch gehalten.

Um die Mehrwertsteuer zur Reduzierung der Lücke um einen Prozentpunkt einzusetzen, müsste der reguläre Satz von 19 auf 21,6 und der ermäßigte von sieben auf acht Prozent ansteigen. Einer Tragfähigkeitslücke nur durch Einnahmeverbesserungen zu begegnen, erscheine ausgesprochen schwierig, stellen die Gutachter fest: "Denn die erforderlichen Steuererhöhungen hätten erhebliche negative Auswirkungen auf das Arbeitsangebot und die Investitionstätigkeit und würden somit das Wirtschaftswachstum deutlich reduzieren. Zudem wäre mit einer vermehrten Steuerflucht ins Ausland zu rechnen."

Pessimistisch sind die Gutachter trotz der schwierigen Zahlenwelt für Deutschland nicht. Zwar ließen sich demografische Trends nicht so schnell ändern, "aber ihre ökonomischen Konsequenzen sind beherrschbar, wenn sich die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der Herausforderungen annimmt."