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Das große Geheimnis des Erfolgs

WAHLSYSTEM Weltweit gilt die amerikanische Präsidentschaftswahl als Kuriosum. Eine Änderung ist jedoch nicht in Sicht

08.10.2012
2023-08-30T12:17:39.7200Z
6 Min

Die SPD-Führung hatte letztlich alles dafür getan, um an der Sache vorbei zu kommen. Und präsentierte - von der medialen Berichterstattung getrieben - mit Peer Steinbrück gut vier Monate vor dem geplanten Termin ihren Kanzlerkandidaten für die kommende Bundestagswahl. Noch im Mai dieses Jahres hatte Parteichef Sigmar Gabriel eine ganz andere Verfahrensweise angekündigt, sollte es mehr als einen Bewerber geben: "Wenn es mehrere gibt, werden das die Mitglieder der deutschen Sozialdemokratie entscheiden." Doch weder Peer Steinbrück noch der Fraktionsvorsitzende Frank Walter Steinmeier und andere führende Sozialdemokraten wollten sich mit der Idee anfreunden.

Ganz anders hingegen bei den Grünen. Sie lassen erstmals ihre beiden Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl von den rund 59.000 Parteimitgliedern wählen. Und bemühen sich eifrig, dies als basisdemokratisches Vorzeigeprojekt zu vermarkten. In Wirklichkeit machen sie aus der Not eher eine Tugend. Denn die Urwahl war von der Parteivorsitzenden Claudia Roth ins Spiel gebracht worden, um einen Alleingang von Fraktionschef Jürgen Trittin zu verhindern.

Vorwahlen

In den USA ist dieses Prinzip der demokratischen Kandidatenfindung hingegen der Normalfall. Rund ein Jahr vor Beginn des Präsidentschaftswahlkampfes müssen sich alle Bewerber um die Spitzenkandidatur durch die Vorwahlen - "primaries" und "caucuses" - kämpfen. Bei den "primaries" können die Parteimitglieder direkt entscheiden, für welchen der Kandidaten die Delegierten des Bundesstaates auf dem nationalen Parteitag ("national convention") votieren sollen. Beim "caucus" werden lokale Delegierte gewählt, die ihrerseits in mehreren überregionalen Versammlungen Delegierte für den nationalen Parteitag ernennen. An "primaries" dürfen in einigen Staaten sogar Nicht-Parteimitglieder teilnehmen, wenn sie sich in die entsprechenden Wählerverzeichnisse eintragen lassen. Selbst Präsident Barack Obama wurde bei seiner erneuten Kandidatur in diesem Jahr in einigen Bundesstaaten von Mitbewerbern herausgefordert.

Sieht man einmal von der Urwahl von Rudolf Scharping 1993 zum SPD-Parteivorsitzenden ab, sind in Deutschland solche basisdemokratischen Wahlen für Spitzenämter und -posten eher unterentwickelt. Die Vorsitzenden der beiden Unionsparteien Angela Merkel (CDU) und Edmund Stoiber (CSU) machten die K-Frage im Jahr 2002 beim berühmt gewordenen Wolfratshauser Frühstück unter sich aus. Und bei der Linken empfand es Oskar Lafontaine offenbar unter seiner Würde, sich einer echten Wahl - in den Medien wie so oft zur "Kampfkandidatur" stilisiert - zum Parteivorsitzenden zu stellen und verzichtete schließlich.

Auch bei den amerikanischen Parlamentswahlen offenbaren sich deutliche Unterschiede zum deutschen System - und diese sind nicht ausschließlich den Unterschieden zwischen einem parlamentarischen und einem präsidentiellen Regierungssystem geschuldet. Der in Deutschland gern beklagte "Dauerwahlkampf" - vermeintlich ausgelöst durch die zwischen zwei Bundestagswahlen liegenden Landtagswahlen - ist in den USA nicht nur der Normalfall. Er ist sogar deutlich ausgeprägter.

Kongresswahlen

Die Amerikaner wählen die beiden Kammern des Kongresses für unterschiedlich lange Amtszeiten und teilweise in Etappen. Während die 100 Senatoren, je zwei pro Bundesstaat, für eine Amtszeit von sechs Jahren gewählt werden, bekommen die 435 Mitglieder des Repräsentantenhauses ihr Mandat lediglich für zwei Jahre vom Volk erteilt. Der Senat wird zudem nicht in einer Wahl komplett gewählt, sondern alle zwei Jahre zu einem Drittel.

Jeder US-Präsident sieht sich somit nach zwei Jahren Amtszeit mit den "midterm elections" konfrontiert, bei denen das gesamte Repräsentantenhaus und ein Drittel des Senats neu gewählt werden. Damit nicht genug, werden in 34 der 50 US-Bundesstaaten die Gouverneure neu gewählt. Die amerikanischen Bürger nutzen diese "midterm elections" ganz ähnlich wie die Deutschen die Landtagswahlen, um der jeweiligen Bundesregierung gegebenenfalls einen Denkzettel zu verpassen. Im ungünstigsten Fall muss der US-Präsident in den verbleibenden zwei Jahren gegen eine Mehrheit in beiden Kammern regieren. In einem präsi- dentiellen System wie den USA gehört das Regieren mit den in Deutschland so geschmähten wechselnden Mehrheiten schon deshalb zum politischen Alltagsgeschäft.

In Deutschland hingen wird in schöner Regelmäßigkeit der Vorschlag diskutiert, ob Bundestags- und Landtagswahlen nicht synchronisiert werden sollten. Schon 1958 forderte der damalige Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, Erich Mende, der "Ökonomie des Wählens" Rechnung zu tragen, um die parlamentarische Demokratie nicht zu überfordern. Die ständige Wahlkampfatmosphäre schade der Demokratie. Dieses Argument wird seitdem immer dann gerne bemüht, wenn die Wahlbeteiligung deutlich sinkt. Zusätzlichen Auftrieb bekommt die Diskussion, wenn sich eine Bundesregierung mit einer Oppositions-Mehrheit im Bundesrat konfrontiert wird.

Der ehemalige amerikanische Präsident Bill Clinton (1993-2001) schrieb in seinen 2004 erschienenen Memoiren: "Für mich haben die Wahltage stets das große Geheimnis der Demokratie verkörpert. Egal wie sehr Meinungsforscher und Experten es zu entmystifizieren suchen - es bleibt ein Geheimnis. Es ist dieser eine Tag, an dem der normale Bürger so viel Macht hat wie der Präsident oder der Millionär. Manche Menschen machen von ihr Gebrauch, andere nicht. Die ersteren wählen ihren Kandidaten aus einer ganzen Reihe von Gründen, manche rational, andere nach Gefühl, einige mit Sicherheit, andere mit Skepsis. Irgendwie ernennen sie meist die richtige Führungspersönlichkeit für ihre Zeit. Das ist es, warum es Amerika nach mehr als 228 Jahren noch gibt und warum es ihm noch gut geht." Vier Jahre zuvor hatte das Vertrauen der Amerikaner in ihr Wahlsystem jedoch einen erheblichen Knacks erlitten und eine der ältesten und erfolgreichsten Demokratien der Neuzeit an den Rand einer Verfassungskrise getrieben.

Wahlmänner

Auslöser für diese Krise war die Präsidentschaftswahl im Jahr 2000, bei der mit George W. Bush zum vierten Mal ein Präsident ins Weiße Haus einzog, der nicht die Mehrheit der Wählerstimmen auf sich vereinigen konnte - nach John Quincy Adams (1824), Rutherford B. Hayes (1876) und Benjamin Harrison (1888). Nach dem amtlichen Wahlergebnis hatte der Demokrat Al Gore mit 51.003.926 Stimmen (48,38 Prozent) zwar eine Mehrheit vor seinem republikanischen Kontrahenten Bush, der 50.460.100 Stimmen (47,87 Prozent) erhielt - verloren hatte Gore die Wahl dennoch. Denn Bush konnte im "electoral gremium" (Wahlmännergremium), das formal den Präsidenten wählt, 271 Stimmen auf sich vereinigen, Gore nur 267.

Für die handfeste Krise sorgten aber auch die Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung der Stimmen - vor allem in Florida -, die auf Fehler oder die fehlerhafte Bedienung der eingesetzten Wahlautomaten zurückzuführen waren. Es folgten wochenlange gerichtliche Streitigkeiten um die Neuauszählung der Stimmen, die weltweit mit Verwunderung - aber auch mit Hohn und Spott - verfolgt wurden.

"The winner takes it all"

Das System der amerikanischen Präsidentschaftswahl über das Wahlmännergremium als Zwischeninstanz ist ein Kuriosum. Dieses wird nach dem Prinzip "the winner takes it all" bestimmt. Das heißt, alle Wahlmänner aus einem Bundesstaat entfallen auf denjenigen Präsidentschaftskandidaten, der die meisten Stimmen in diesem Staat erhalten hat. Die restlichen abgegebenen Stimmen spielen nach den Regeln des Mehrheitswahlrechts keine Rolle. Lediglich Nebraska und Maine machen eine Ausnahme. Dort erhält der Kandidat für jeden gewonnen Wahlkreis einen Wahlmann und zwei, wenn er die Mehrheit der Stimmen im gesamten Staat erhält. Erstmals gesplittet wurde die Wahlmännerstimmen auf zwei Kandidaten in Nebraska bei den Wahlen 2008.

Ein gesetzlicher Zwang, ihre Stimme gemäß des Wahlausgangs in ihrem Staat abzugeben, besteht für die Wahlmänner nur in 26 Bundesstaaten. In den übrigen 24 wären sie formal frei in ihrem Votum. In der Praxis spielt dies jedoch keine Rolle.

Das "electoral gremium" setzt sich aus 538 Wahlmännern zusammen. Das entspricht exakt der Zahl der Abgeordneten im Repräsentantenhaus (435) und im Senat (100) plus drei Wahlmänner, die die Hauptstadtregion District of Columbia, die bei der Präsidentschaftswahl wie ein Bundesstaat gewertet wird, entsenden darf. Die Verteilung der Wahlmänner auf die Staaten wird alle zehn Jahre nach einem Zensus berechnet.

Die Präsidentschaftswahl 2000 hatte in den USA zwar heftige Diskussionen ausgelöst, die jedoch folgenlos blieben. Einer Reform - etwa die Abschaffung des Wahlmännersystems - müssten drei Viertel aller Bundesstaaten zustimmen. Doch werden diese - vor allem nicht die kleineren - freiwillig ihre Bedeutung innerhalb der Vereinigten Staaten aufgeben, die ihnen das Wahlsystem bietet. Das Misstrauen vieler Amerikaner gegenüber einer starken Zentralmacht ist zudem fest verwurzelter Bestandteil der politischen Kultur und die starke Stellung der Bundesstaaten wurde von den Verfassungsvätern bewusst angelegt.

An diesem Punkt treffen sich die politischen Kulturen in den USA und Deutschland. Wie schwer es ist, die Stellung der Gliedstaaten in einem föderalen System zu beschneiden oder das Wahlrecht in die ein oder andere Richtung zu verändern, zeigten hierzulande die Diskussionen um die Föderalismusreform und die Tatsache, dass es dem Bundestag bis heute nicht gelungen ist, die vom Bundesverfassungsgericht wiederholt geforderten Korrekturen im Wahlrecht umzusetzen.