Im Westen und Osten auch Neues
ERINNERUNG Die Nationen pflegen ihr jeweils eigenes Bild vom Ersten Weltkrieg
Russland: Neubewertung des "imperialistischen" Krieges
In Russland wie auch zuvor in der Sowjetunion galt der Erste Weltkrieg bisher als imperialistischer Krieg. Er spielte eine äußerst untergeordnete Rolle, überschattet von der Revolution im Herbst 1917 und dem darauf folgenden Bürgerkrieg. "Wir haben bisher unseren damaligen Gegnern die Sichtweise auf den Krieg überlassen", sagte Wadim Lapunow, Moderator einer Konferenz zu dem Thema im russischen Außenministerium. "Das wird sich ändern."
Eine Neuinterpretation deutet sich seit längerem an. Wohl nicht zufällig hat Präsident Wladimir Putin in seiner diesjährigen Rede zur Lage der Nation den Ersten Weltkrieg erwähnt. Zu sehen ist die Veränderung auch im Deutsch-Russischen Museum in Berlin Karlshorst. Bisher begann die Dauerausstellung mit der Revolution von 1917. Seit kurzer Zeit steht 1914 auf der Zeitleiste. Der Text beginnt aber nach wie vor mit dem Separatfrieden von Brest-Litowsk 1918. Begründet wird das nicht. "Russische Historiker haben Angst vor solchen Diskussionen", sagt Museumsleiter Jörg Morré. Russische Geschichtsschreibung wird traditionell vorgegeben. Damit das so bleiben möge, gibt es seit 2009 beim Präsidenten eine Kommission "zur Verhinderung von Versuchen der Geschichtsfälschung zum Nachteil der Interessen Russlands". "Sie tritt zwar kaum in Erscheinung", sagt Morré, "doch die Botschaft ist klar: Staatlicherseits wird aufgepasst."
Um aus dem imperialistischen Krieg des zaristischen Russlands den Ersten Weltkrieg zu machen, muss die Geschichte umgeschrieben werden. In welche Richtung das gehen kann, sagt Andrej Nasarow von der Russischen militär-historischen Gesellschaft: "Die Lehre aus dem Ersten Weltkrieg lautet, dass ein multinationales Volk unbesiegbar ist, wenn es geeint ist." Und: "Russland ist ein Beispiel für das Zusammenleben unterschiedlicher Völker." Es geht darum, Helden zu schaffen, die für das Vaterland gestorben sind - auch wenn das Vaterland damals ein anderes war. Viele erfolgreiche Generäle der Zarenarmee kämpften im anschließenden Bürgerkrieg auf die Seite der Weißen gegen die Bolschewisten - und galten aus sowjetischer Sicht als Volksfeinde. Auch die Sicht auf die Zarenfamilie steht zur Disposition, ihre Rehabilitierung wird bereits seit längerem betrieben. 2013 war das Jahr der Romanows, es gibt Ausstellungen und der Kreml ließ einen aufwendig gestalteten Kalender verteilen.
Im August 2014 wird in Russland das erste Denkmal für den Ersten Weltkrieg eröffnet. Den Ersten Weltkrieg zu heroisieren, heißt aber auch, die Revolution von 1917 in der Wahrnehmung zu schwächen und sich zum Zaren und zu den Weißen zu bekennen. Und das wirft ein Licht auf das nächste hundertjährige Jubiläum, die Revolution von 1917. "An die", meint Morré, "werden dann wahrscheinlich nur noch ein paar Altbolschewiken erinnern."
Frankreich: Blick ins Familienarchiv
In jedem französischen Dorf steht vor dem Rathaus oder gegenüber der Kirche ein Denkmal, das die Namen der im Ersten Weltkrieg gefallenen Söhne trägt. Es sind nicht Krieger- oder Heldenstatuen, sondern Mahnmale zum Gedenken an die Opfer. Viel nachhaltiger als der Zweite Weltkrieg hat der Krieg von 1914-18 die französische Nation und ihren Wunsch nach Frieden in Europa geprägt. Bis heute ist von der "Grande Guerre", dem "Großen Krieg", die Rede, von dem man in Frankreich 1918 voller (leider irriger) Hoffnung sagte, es müsse das letzte Mal gewesen sein, dass Frankreich und Deutschland gegeneinander ins Feld ziehen.
Wie sehr die Franzosen an der Erinnerung an diesen sieg- aber auch verlustreichen Krieg hängen, zeigt der Feiertag am 11. November aus Anlass des 1918 in Compiègne unterzeichneten Waffenstillstands. Entsprechend groß ist der Platz, der nun den Hundertjahres-Gedenken 1914-2014 eingeräumt wird. Damit es nicht nur eine rein offizielle Veranstaltung bleibt, haben die Departementsbehörden die Familien ermuntert, die persönlichen Erinnerungsstücke wie Fotos, Zeichnungen, Briefe oder Tagebücher ihrer mobilisierten Vorfahren archivieren zu lassen. Die Einladung stieß bisher auf großes Echo, und die Historiker bekommen Einsicht in eine ungeahnt große Menge von bisher unzugänglichen Dokumenten über den Kriegsalltag.
Den Beginn zum offiziellen Gedenken machte Präsident François Hollande bereits am 11. November dieses Jahres, der Tag, der vor 95 Jahren das Ende des Blutvergießens besiegelte. Hollande sagte, das Gedenken müsse ebenso zur "Erneuerung des Patriotismus" wie als "Botschaft des Friedens" dienen. Drei Daten ragen aus der Vielzahl der Veranstaltungen in Europa heraus: Am französischen Nationalfeiertag, dem 14. Juli, werden bei der traditionellen Militärparade auf der Avenue des Champs-Elysées freundschaftlich vereint Einheiten von Uniformierten und Zivilisten aus den 71 am "Großen Krieg" beteiligten Staaten teilnehmen. Ein zweiter Höhepunkt wird der 3. August sein, das Datum der Kriegserklärung des Deutschen Reiches an Frankreich, an das eine gemeinsame Friedensfeier von Hollande und Bundespräsident Joachim Gauck erinnern soll. Als möglicher Treffpunkt wird der "Menschenfresserberg" am Hartmannsweilerkopf im Elsass erwogen. Am 12. September werden in Reims aus Anlass des Jahrestags der Schlacht an der Marne Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Russland gemeinsam ihrer Toten gedenken.
Rechtzeitig vor dem 100. Jahrestag der Schicksalsschlacht bei Verdun wird auch 2016 das dortige Memorial nach einer Renovierung wieder eröffnet. Es darf seit der Einweihung 1967 als eines der wichtigsten Museen zum Ersten Weltkrieg in Europa gelten. Schon seit Monaten wird in französischen Medien die Erinnerung aufgefrischt, für 2014 ist vom staatlichen Fernsehsender France-2 auch eine Serie von Dokumentarfilmen mit dem Titel "Die Apokalypse des Ersten Weltkriegs" angekündigt. Da die Franzosen sich leidenschaftlich für die Geschichte im allgemeinen und für jene der "Grande Guerre" ganz besonders interessieren, dürfte der historische Nachhilfeunterricht auf großes Echo stoßen.
Serbien: Aufwertung eines Attentäters
Schon bei den Vorbereitungen zum Gedenken an den 100. Jahrestag des Erster-Weltkrieg-Ausbruchs sieht Serbien sich einmal mehr in der Rolle des ungerecht behandelten Opfers. Ob Staatspräsident Tomislav Nikolic, Regierungschef Ivica Dacic oder namhafte Historiker: "Jeder Versuch, Serbien als den Schuldigen für den Ersten Weltkrieg auszumachen, ist eine Verbiegung und der Revision der Geschichte", wird pausenlos gewarnt. Vor allem wird kritisiert, dass der serbische Nationalist Gavrilo Princip, der mit seinem tödlichen Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand 1914 in Sarajewo die Julikrise auslöste, mit Osama Bin Laden vergleichen werde. Belgrad sieht seinen Landsmann nicht als Terroristen, Mörder und Attentäter, sondern als glühenden Patrioten und Freiheitskämpfer.
So weist zum Beispiel der Doyen der serbischen Geschichtswissenschaft, Akademiemitglied Milorad Ekmecic, Princip eine überragende Bedeutung zu: "Der Kampf Serbiens für die Freiheit 1914-1918 ist das gigantische Ringen eines kleinen Landes mit dem übermächtigen Feind und ein Beispiel für das selbstlose Aufopfern für die Freiheit und die Freiheit seiner Brüder, die sich später undankbar gezeigt haben." Der Journalist Muharem Bazdulj setzt noch eins drauf: Princips Attentat sei für die damaligen europäischen Großmächte eine Art bedrohliche Ankündigung der "Befreiung aller unterworfenen und besetzten Teile dieser Welt" gewesen.
Weil vor allem die Kriegsverlierer Deutschland und Österreich gemeinsam mit Frankreich die Geschichte angeblich neu schreiben und die Aggressoren reinwaschen wollen, boykottiert das offizielle Serbien weitgehend die im Juni in Sarajewo geplanten Gedenkveranstaltungen. So nehmen die wichtigsten Institute des Landes nicht an der großen Historikerkonferenz teil. Stattdessen soll eine Gegenveranstaltung vor allem mit russischen Historikern im bosnischen Museumsstädten Andricgrad organisiert werden. Der bosnisch-serbische Regisseur Emir Kusturica hat einen Dokumentarfilm angekündigt, der "die ganze Wahrheit" zeigen soll.
Die Diskussion in Serbien wird von aktuellen politischen Inhalten überlagert. Einige Historiker wie Milan Ristovic behaupten, das Ausland stelle eine Verbindung vom Attentat in Sarajewo zu den Bürgerkriegen beim Zerfall Jugoslawiens in den 1990er Jahren her. Wie beim Ersten Weltkrieg seien für viele in Westeuropa die Serben die Hauptschuldigen für die vielen Kriege. Wenn man also die Beschuldigungen beim Ersten Weltkrieg zurückweisen könne, habe man auch bessere Karten bei der geschichtlichen Aufarbeitung der 1990er Jahre.
Warum das Ausland Serbien so ungerecht behandelt, erklärt sich der Belgrader Historiker Dragoljub Zivojinovic so: Die EU wolle ihre Mitglieder aussöhnen und keine alten Wunden aufreißen. "Daher muss die Verantwortung auf jemand anderen abgewälzt werden: Schuldig können nur die Russen und die Serben sein", meint der Wissenschaftler. Doch eine Strategie des Staates oder der Wissenschaften zur Untermauerung der serbischen Position gibt es nicht. Dem wirtschaftlich schwer angeschlagenen Land fehlt schlicht das Geld dazu.
Thomas Franke und Rudolf Balmer berichten als freie Korrespondenten aus Russland beziehungsweise aus Frankreich. Thomas Brey ist Leiter des Balkanbüros der Nachrichtenagentur dpa in Belgrad.