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Aktuelle Stunde : Die Geister, die der Kreml rief

Die Außenpolitiker im Bundestag sorgen sich um die scharfe nationalistische Rhetorik in Russland – und wollen dennoch den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen

09.03.2015
2023-08-30T12:27:57.7200Z
4 Min

Die Fraktionen im Bundestag sorgen sich um das aufgeheizte innenpolitische Klima in Russland vor dem Hintergrund des Konflikts in der Ostukraine – und stellen einen Zusammenhang zum Mord an dem Oppositionspolitiker und früheren Vizepremier Boris Nemzow Ende Februar her. In einer auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD angesetzten Aktuellen Stunde betonten Vertreter aller Seiten, wie wichtig es für das Land sei, diese Tat umfassend aufzuklären.

Reformer Gernot Erler, SPD-Abgeordneter und Russland-Beauftragter der Bundesregierung, erinnerte an Nemzows Reformbegeisterung in den 1990er Jahren, zunächst als Gouverneur der Oblast Nischni Nowgorod, später als Vizepremier unter Präsident Boris Jelzin. Die Reformergeneration um Nemzow stehe aber auch für jene „tragische Entwicklung, dass nämlich die Menschen in Russland die ersten Schritte zu Demokratie und Marktwirtschaft“ vor allem als Verlust ihrer sozialen Sicherheit erfahren mussten“. Es sei „mit Händen zu greifen“, dass der Mord in einer „künstlich aufgeheizten und aggressiven Atmosphäre“ im heutigen Russland begangenen wurde, in der der Präsident seine Kritiker als „Nationalverräter“ und „Fünfte Kolonne“ ins Abseits stelle.

Wie Erler forderte auch Wolfgang Gehrcke (Die Linke) die Aufklärung der Tat. „Wenn dieser Mord nicht aufgeklärt wird, dann behält Russland eine offene Wunde.“ Gehrcke hielt es indes „nicht für klug, ein Klima zu bereiten, in dem von Anfang an feststeht, dass am Ende Putin schuld ist“. Die „Isolation und Selbstisolation“ Russlands müsse dringend beendet werden. Der Konflikt in der Ostukraine dürfe nicht wieder in Gewalt umschlagen, weil diese Gewalt ihrerseits auf die kriegsführenden Länder zurückfalle. Gehrcke forderte eine „neue Ostpolitik“ und eine „europäische Entspannungspolitik“. Es bleibe zu hoffen, dass der Mord an Nemzow in dieser Hinsicht zu einem „Signal der Umkehr“ werde.

Franz Josef Jung (CDU) forderte, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. „Täter, Auftraggeber und Motive“ dürften nicht im Dunkeln bleiben wie bei den Morden an Anna Politkowskaja, Natalja Estemirowa und Alexander Litwinenko. Jung kritisierte ein auch von den russischen „Staatsmedien“ unterstütztes „Klima von Hass und Hysterie“, in dem „Aggression und Feindschaft“ geschürt und „dunkelsten Kräften“ in die Hände gespielt werde.

Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen) nannte Nemzow einen „brillanten Kopf, wiederständig und unerschrocken“. Er habe die Entscheidung getroffen, „in der Wahrheit zu leben – ohne Rücksicht auf Gefahr“. Auch wenn es anfangs so schien, dass Russlands Präsident Wladimir Putin nach Oligarchie und rechtsfreien Räumen der 1990er Jahre wieder eine staatliche Ordnung etablieren wollte, so wisse man heute, dass er ein neues System aus Geheimdienst und Oligarchie, überwölbt von Korruption und Willkür, geschaffen habe. „Dieses System hat auch immer schon zu Gewalt gegriffen“ – mit dem Krieg in Tschetschenien, in Georgien, und heute in der Ukraine, sagte Beck. Den „entfesselten Hass“ in Russland nannte sie ein „Drama für das russische Volk“. Es stehe zu befürchten, dass Putin „die Vertikale der Macht“ bereits zu entgleiten drohe, der Mord an Nemzow unmittelbar vor der Kremlmauer auch eine Botschaft radikaler Kräfte an den Präsidenten gewesen sei. Beck erinnerte jedoch auch daran, dass in der russischen Gesellschaft „mehr Lebendigkeit und Widerspruchsgeist stecken“ als die Kreml-Propaganda glauben machen wolle. „Wir sollten an diese Kräfte glauben und nicht zu zaghaft sein.“

Werte Karl-Georg Wellmann (CDU) machte eine nüchterne Bestandsaufnahme: Dass das moralische Koordinatensystem Russlands durcheinandergeraten sei, sei „mit den Mitteln unserer Außenpolitik“ kaum zu ändern. „Wir müssen leider von unserer Konvergenzvermutung, also von unserer Sicht der Dinge, dass andere Staaten so werden wie wir, wenn wir nur lange genug mit ihnen zusammenarbeiten, Abschied nehmen. Wir haben keinen Hebel zur Durchsetzung unserer Werte.“ Mit dem Begriff einer „wertebezogenen Außenpolitik“ gerate man „leider allzu oft auf Traumpfade“. Wenn man auf russischer Seite glaube, „ökonomische Schwäche durch militärische Kraftmeierei kompensieren zu können, so müssen wir uns auch sicherheitspolitisch darauf einstellen, und ich habe den Eindruck, dass wir das tun“, sagte Wellmann.

Stefan Liebich (Die Linke) erinnerte hingegen daran, dass „wir Nachbarn bleiben, wer immer dort oder hier gerade regiert. Wir müssen einen Weg finden, miteinander umzugehen, auch wenn es manchmal nicht leicht ist.“ Es sei ein Fehler, den NATO-Russland-Rat gerade dann zu suspendieren, wenn man ihn am dringendsten brauche.

Jürgen Trittin (Grüne) stellte die außenpolitische Prämisse eines Wandels durch Annäherung infrage: „Dieser Mechanismus ist in Russland widerlegt worden.“ Es sei richtig , weiterhin Vorschläge für eine gemeinsame Freihandelszone zu unterbreiten: „Aber ich füge hinzu: Freihandel wird es nachhaltig und dauerhaft nur dort geben, wo die Herrschaft des Rechts gilt.“

Fritz Felgentreu (SPD) erinnerte mit Blick auf die Länder des Baltikums an die Aufgabe, „durch eine Politik der Verlässlichkeit unseren Verbündeten Rückhalt zu geben“. Mit Sanktionen reagiere Europa auf die Verletzungen der KSZE-Schlussakte und der völkerrechtlichen Sicherheitsgarantien für die Ukraine durch Russland, außerdem habe die Nato den Aufbau einer Eingreiftruppe beschlossen, die sehr schnell auf jede Bedrohung in Osteuropa reagieren könnte. „Beides ist richtig. Wir zeigen damit, dass wir Unrecht nicht hinnehmen, uns selbst aber an das gebunden fühlen, was die Nato mit Russland vereinbart hat“, sagte Felgentreu.

Bei allem Dissens: Die Außenpolitiker der vier Fraktionen wollen die Gesprächskanäle offenhalten. Mitte April reist eine Delegation des Auswärtigen Ausschusses nach Kiew und Moskau, um das Gespräch mit Abgeordneten der Rada und der Duma zu suchen.