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Otto von Bismarck : Mit Augenmaß

Zur Erinnerung an den Reichsgründer, der vor 200 Jahren geboren wurde, sind neue Biografien erschienen

30.03.2015
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8 Min

Dieses Jahr wird in Deutschland kein Super-Gedenkjahr wie 2014 – mit 100 Jahre Erster, 75 Jahre Zweiter Weltkrieg und 25 Jahre Mauerfall. Aber immerhin: Otto von Bismarck (1815-1898), der „Eiserne Kanzler“ und Schmied des Deutschen Reichs von 1871, hat am 1. April 200. Geburtstag. Es gibt Konferenzen, Ausstellungen, Vorträge und natürlich eine Sonderbriefmarke samt Gedenkmünze. Höhepunkt wird ein von der Otto-von-Bismarck-Stiftung veranstalteter Festakt im Deutschen Historischen Museum in Berlin mit Reden von Bundespräsident Joachim Gauck und Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) sein. Tempi passati: Zum 150. Geburtstag Bismarcks 1965 hatte es noch eine Feierstunde im Bundestag gegeben, mit einer Ansprache von Kanzler Ludwig Erhard (CDU) über den Reichsgründer als „großen Mann“ der Geschichte.

Ein halbes Jahrhundert später ist Deutschland, wenn auch territorial erheblich geschrumpft im Vergleich zu 1871, wieder vereint und die frühere Ahnung eines endgültigen Scheiterns des von Bismarck gegründeten Nationalstaats durch die Umwälzungen von 1989/90 entschwunden. Auch wenn es heutzutage in der Bundesrepublik keine parteipolitischen Erben des hochkonservativen adligen Monarchisten gibt und Bismarck nicht in eine schwarz-rot-goldene Tradition passt:. Genügt da eine moderate Erinnerung an einen Mann, den Henry Kissinger einmal den „größten deutschen Staatsmann“ des 19. Jahrhunderts nannte, und dessen Wirken bis in unsere Tage ins wiedervereinte Deutschland von seiner unitarisch-föderalen Struktur bis zur Sozialgesetzgebung reicht? „Ich finde die bisherige Resonanz auf Bismarcks 200. Geburtstag durchaus erfreulich“, sagt Ulrich Lappenküper, Leiter der Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh. Er wolle abwarten, was das Jahr noch so alles bringe.

Medial jedenfalls ist zu Bismarck schon einiges in Gang gebracht, so ein beeindruckendes Doku-Drama beim Sender Arte. Auch der Büchermarkt beschäftigt sich schon kräftig mit dem gebürtigen Altmärker und preußischen Landjunker, wenn auch ohne Hype: Neben Neuauflagen früherer Werke (so Ernst Engelberg/Achim Engelberg: Bismarck, Sturm über Europa. Biographie, Siedler, 864 S., 39,99 Euro; Eberhard Kolb: Otto von Bismarck: Eine Biographie, Beck, 208 S., 14,95 Euro) sind bislang drei neue Biografien auf dem Markt bzw. angekündigt: Ende April erscheint das Buch „Bismarck: Ein Leben im Widerspruch“ (Böhlau, 350 S., 29,90 Euro) des Stuttgarter Historikers Carsten Kretschmann. Zu kaufen sind bereits „Bismarck. Ein Preuße und sein Jahrhundert“ vom Düsseldorfer Geschichtswissenschaftler Christoph Nonn und „Bismarck. Größe-Grenzen-Leistungen“ vom Passauer Historiker Hans-Christof Kraus (siehe unten).

Überhöhung In beiden Werken wird gut herausgearbeitet, warum die Historie über Bismarck selbst Geschichte geschrieben hat. Durch die Katastrophen und tiefen Umbrüche der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts könne Bismarck bei den Deutschen nicht zu den unangreifbaren Nationalhelden gehören wie in den USA etwa die Gründungsväter der Nation oder in England ein Churchill: Und es ist die kontaminierende Wirkung der von den Nationalsozialisten propagierten Ahnenreihe von Friedrich dem Großen über Bismarck zu Hitler. Nach der Ära mythischer Überhöhung und eines Kults mit Bismarck-Türmen und –Denkmälern nach dem Tod des Reichskanzlers erfolgte dann ein Sturz nach 1945 und eine teilweise Verteufelung und Dämonisierung. Der Demokratengegner wurde zum Ahnherrn preußischer und deutscher Kriegs– und Gewaltpolitik samt autoritärer Staatsform gemacht, was als „deutscher Sonderweg“ letztlich zur Katastrophe unter Hitler geführt habe.

Spätestens seit Lothar Galls Biografie „Bismarck – der weiße Revolutionär“ (1980) hat in Deutschland aber eine Normalisierung im Sinne einer Historisierung eingesetzt. Diese Linie wird auch von Christoph Nonn und Hans-Christof Kraus fortgeführt. Nonn sieht in Bismarck weder ein „Genie“ noch ein „Monster“, sondern einen „begabten Diplomaten und leidlich erfolgreichen Innenpolitiker“. Außenpolitisch sei er „stets eine Hebamme historischer Ereignisse, nicht ihr Schöpfer“ gewesen. Mit der Reichseinigung 1871 habe er keinen Sonderweg beschritten, sondern den damaligen europäischen Standard von Nationalstaatsgründungen exekutiert. Eingebettet in die Kurzkapitel „einige Fragen“ und „einige Antworten“ spult der Autor eine konventionelle Biografie des zeitlebens dem Lande verhafteten Edelmanns herunter. Am befruchtendsten für den Leser wirken da Nonns ständige kontrafaktische Spekulationen „Was wäre wenn?“. So eine bürgerlich-liberale Alternative statt der Festschreibung konservativer Innenpolitik nach Bismarcks Ernennung zum preußischen Ministerpräsidenten 1862, eine mögliche Weiterentwicklung des Deutschen Bundes nach 1866 unter österreichischer Führung statt preußisch-kleindeutschem Nationalstaat 1871 oder eine autoritäre Alternative durch Gelingen der Staatsstreichpläne 1890 statt Entlassung des Kanzlers durch Kaiser Wilhelm II. Gegen manche Historikermeinung sieht Nonn als größten innenpolitischen Erfolg Bismarcks die Mobilisierung der agrarischen Interessenpolitik, so durch hohe Zölle, zugunsten konservativer Interessen. Da habe Bismarck eine in Europa übliche Politik betrieben, denn schließlich habe trotz Industrialisierung die Mehrheit der deutschen Bevölkerung während dessen gesamter Reichskanzlerzeit bis 1890 von der Landwirtschaft gelebt.

Am Schluss lobt Nonn die demonstrative „Saturiertheit“ von Bismarcks Staat nach 1871 so wie die des wiedervereinten Deutschland nach 1990. Irritierend wirken aber einige gewagte Verknüpfungen, so der Vergleich der „nationalegoistischen Zollpolitik“ des Reichskanzlers mit der heutigen „nationalegoistischen Wirtschaftspolitik“ einer bundesdeutschen Exportförderung in der EU.

Während die Einordnung Bismarcks bei Nonn schwankt und der Autor vor allem die zeitgeschichtlichen Antriebskräfte und Umgebungen betont, bei denen Bismarck bloße „Hebammendienste“ leistete, sieht Kraus den Reichsgründer deutlich positiv und stellt auf seine markanten Eigenleistungen ab. Der Autor ermöglicht den Zugang zum Phänomen Bismarck anhand bestimmter Begrifflichkeiten. Diese Strukturierung bietet dem Leser angesichts des jahrzehntelangen wendungsreichen politischen Wirkens Bismarcks gute Hilfen, den umstrittenen Reichsgründer einzuordnen.

Fehler und Leistungen Heute, schreibt Kraus, lägen Bismarcks Fehler „so unbestritten und klar zu Tage“ wie seine „historische Größe“. Die negativen Seiten, abseits persönlicher defizitärer Eigenschaften wie Rachsucht oder Hass gegen politische Gegner? Es seien die drei „innenpolitischen Einigungskriege“ (so der Historiker Dieter Langewiesche) gegen sogenannte „Reichsfeinde“ gewesen, die der erste Kanzler des zweiten deutschen Kaiserreichs entfesselt und verloren hat: Der „Kulturkampf“ gegen die katholisch-römische Kirche, der weite Bevölkerungskreise im Rheinland und in Süddeutschland in Distanz zum neuen Reich brachte. Dann seine Repressionen gegen die sozialistische Arbeiterbewegung („Sozialistengesetze“), wo er radikale Revolutionäre und gemäßigte Reformisten in einen Topf warf. Schließlich seine „Polenpolitik“ mit der Unterdrückung der polnischen Sprache und Kultur in Westpreußen und Oberschlesien, deren Pflege Bismarck automatisch mit Separatismus und Nationalismus verband. Bismarcks außenpolitisch größte Fehlleistung sieht Kraus im harten Frieden mit Frankreich nach dem Sieg von 1871, mit hohen Reparationszahlungen und vor allem der Wegnahme Elsass-Lothringens. Dies habe die Feindschaft mit Frankreich festgeschrieben. Kraus sinniert allerdings selbst darüber, ob die Pariser Politikkonstante seit dem 30-jährigen Krieg, sich gegen Machtzusammenballungen an seiner Ostgrenze zu stellen, dies nicht in jedem Fall bewirkt hätte.

Gleichwohl überstrahlen bei Kraus die Leistungen Bismarcks Defizite. Für den Autor ist die „wichtigste bleibende Leistung“ nach wie vor die deutsche Einheit. Unter ihm sei nach den drei Einigungskriegen von 1864, 1866 und 1870/71 aus Preußen, Bayern, Sachsen, Hannoveranern, Württembergern und anderen die (kleindeutsche) Staatsnation entstanden, die alle Umbrüche nach 1918 und 1945 sowie Jahrzehnte der Teilung überstanden und 1990 die friedliche Wiedervereinigung ermöglicht habe.

Bismarcks zweite große Leistung sei seine außenpolitische Staatskunst, eine „Politik mit Augenmaß“ unter Einbeziehung von Alternativen verfolgt zu haben. Er wollte nach 1871 das Erreichte bewahren, ohne weitere Ambitionen in Europa. Um Gefahren für den beargwöhnten neuen Machtblock in Europas Mitte abzuwehren, entspann er ein kunstvolles Bündnissystem mit den Angelpunkten Österreich-Ungarn und Russland. Als bis in unsere Tage reichende große Leistung stehe schließlich die „Grundlegung des deutschen Sozialstaats“ mit der von Bismarck in Gang gesetzten Kranken-, Unfall-, Alters- und Invaliditätsversicherung.

All dies macht Bismarck für Hans-Christof Kraus „bis heute zu einer der herausragendsten, wirkmächtigsten Persönlichkeiten der deutschen und europäischen Geschichte“. Auch dieser Autor zieht dann etwas kühn Linien bis in die Gegenwart und fragt, ob nicht die heutigen Deutschen die eigentlichen „Erben Bismarcks“ seien. Die „saturierte“ Bundesrepublik als „ehrlicher Makler“ von der Euro-Krise bis zum Ukraine-Konflikt. Das freilich muss jetzt nur noch in Athen, Paris, Moskau und anderswo so gesehen werden.

Die mitunter verstörende Welt zu verstehen, ist ein schwieriges Unterfangen. Insofern ist die jüngst erschienene Essay-Sammlung „Versuche über den Unfrieden“ von Hans Magnus Enzensberger klug betitelt. Versuche, das klingt angesichts der Komplexität dieser Welt angemessen bescheiden. Was die vier Beiträge eint, das lässt der inzwischen 85 Jahre alte Schriftsteller in seinem knappen Vorwort anklingen. Es ist eine grundsätzliche Skepsis gegenüber der allzu optimistischen Hoffnung auf ein Ende der Geschichte oder eine Friedensdividende, die nach Ende des Kalten Krieges aufkam.

Das wird besonders in dem 1993 erschienen Aufsatz „Aussichten auf den Bürgerkrieg“ deutlich. Für Enzensberger ist klar: Bürgerkriege finden wir nicht nur im ehemaligen Jugoslawien oder irgendwo in Afrika. Der „molekulare Bürgerkrieg“ ist in unseren (westlichen) Städten längst angekommen, ob nun in Form von Gang-Gewalt in den USA oder Hetzjagden auf Ausländer in Ostdeutschland. Fast mit Sehnsucht nach früheren Tagen resümiert Enzensberger, dass diese Gewalt ideologisch eigentlich gar nicht mehr begründet sei, die vermeintliche Ideologie pure Fassade. Die Täter hätten vielmehr einen „autistischen Charakter“. Diesen Gedanken entwickelt er auch in dem 2006 erschienenen „Schreckens Männer. Versuche über den radikalen Verlierer“ weiter. Ob nun der Amokläufer in der Schule oder, kollektiver gedacht, radikale Islamisten, was sie treibt, ist die Erkenntnis, dass sie eben Verlierer sind – mit der Mission, einen Schuldigen zu finden und zu zerstören.

Enzensbergers Erklärungsversuch ist zwar eingängig, vermag aber nicht restlos zu überzeugen. Die Geringschätzung von Ideen und Ideologien erscheint zumindest fragwürdig. So mag man den dumpfen Nazi-Schläger noch mit der Verlierer-Theorie erklären können. Die Mordserie der Terrorgruppe „nationalsozialistischer Untergrund“ hat aber gezeigt, wie fatal es ist, wenn die Wirkmächtigkeit rassistischen Gedankengutes unterschätzt wird. scr