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Kultur : »Imitierte Demokratie«

Intellektuelle diskutieren über Zustand des Landes

10.08.2015
2023-08-30T12:28:07.7200Z
2 Min

In welchem Land leben wir? Diese Frage diskutieren russische Intellektuelle in unzensierten Zeitungsartikeln und ihren Büchern. Der Historiker Dmitrij Furman lässt keinen Raum für Zwischentöne: In seiner Heimat herrsche ein autoritäres Regime, das sich hinter der Fassade demokratischer Institutionen verstecke. Die demokratischen Normen seien bloße "Dekoration" und die "souveräne Demokratie" imitiere lediglich Demokratie.

Jurij Piwowarow, Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaft, erklärt, warum sich das Volk gegen dieses politische Blendwerk nicht wehrt: Einerseits habe der russische Mensch in der Sowjetunion seine Fähigkeit zur Selbstorganisieren verloren. Andererseits lebten die Menschen heute im "postkommunistischen Russland, in dem der Große Vaterländische Krieg die gegenwärtige Macht legitimiert". Der "Kult des Sieges" sei der wichtigste Pfeiler "im Arsenal der ideologisch-emotionalen Ruhigstellung der Bevölkerung". Putins Regierung definiert Piwowarow als "monarchistisch-erbliche Präsidentschaft", die sich auf ein "autoritär-polizeilich-kriminelles System" stütze. Er begrenzt Putins Rolle auf die Etablierung eines "effektiven Mechanismus der Ausbeutung der Ressourcen Russlands zu Gunsten kleiner Teile der Bevölkerung". Genauso scharf urteilt er über die Staatsduma: "Die Parteien und unser Parlament sind ein Fake", das nur eine ("systemtreue") Opposition simuliere.

Nachdem die Machthaber in den spontanen Protestmärschen der Jahre 2012 bis 2014 eine "Herausforderung ihres Regimes" erkannt hatten, vollzogen sie eine politische Kehrtwende, schreibt der bekannte Ökonom Viktor Scheiniss in der "Nezavisimaja gazeta". Es begann eine "Hexenjagd" auf Andersdenkende, deren verfassungsmäßig garantiertes Recht auf Meinungsfreiheit durch die Ideologie des staatlichen Patriotismus verdrängt wurde. In den Medien wurde dieser Kurs von Putin-treuen Politikern, Militärs und Schriftstellern des "Isborskij Club" durchgesetzt. Sie alle hatten sich der Wiederherstellung des russischen Imperiums verschrieben. Scheiniss betont, die Bevölkerungsmehrheit habe Putin das "Mandat für die Restaurierung des Autoritarismus" gegeben.

Vertrauen Dies bestätigt Umfragen des Lewada-Instituts zuletzt im Juli 2015: Danach vertrauen 89 Prozent der Befragten dem Präsidenten. 60 Prozent glauben nicht, dass er den Staatsapparat kontrolliert und trennen Putin so von der korrupten Bürokratie. "Die Macht ist um den Präsidenten aufgebaut. Es ist die einzige politische Institution im Land, die von der Mehrheit der Bevölkerung anerkannt wird und über Autorität verfügt", bestätigt Scheiniss.

"Sage mir, wem gehört die Krim und ich sage Dir, wer Du bist!" So leicht kann man einen "echten Patrioten" von einem "Liberalen" beziehungsweise "Verräter" unterscheiden. Dennoch wurde der patriotische Sturm in Russland nach der Krimeroberung "nicht von einem spürbaren Optimismus begleitet", notiert der Moskauer Philosoph Alexander Zipko. "Die Partei des Krieges" habe in Russland gewonnen. Aber nur dank der Besonderheiten der Putinschen Psychologie sowie der Militärs und Geheimdienstler . Diese "Machtvertikale" habe Russland - so Zipko - vor dem Zerfall gerettet.