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WAHL in der TÜRKEI : Im Schatten der Gewalt

Unter dem Eindruck des Anschlags von Ankara wählen die Bürger ein neues Parlament

19.10.2015
2023-09-18T11:58:28.7200Z
4 Min

In normalen Zeiten sind Wahlkämpfe in der Türkei farbenfrohe und laute Angelegenheiten. An jeder Straßenlaterne wehen Wimpel und Fahnen mit den Symbolen von Parteien und Kandidaten. Wahlkampfbusse mit aufmontierten riesigen Lautsprechern beschallen Straßen und Plätze mit Liedern und markigen Parolen. Doch diesmal ist alles anders. Vor der Parlamentsneuwahl am 1. November wirft der Terroranschlag von Ankara seinen Schatten auf den Wahlkampf.

Nach dem Attentat mit fast hundert Toten unterbrachen die islamisch-konservative Regierungspartei AKP und die säkularistische Oppositionspartei CHP ihre Massenveranstaltungen, die Kurdenpartei HDP sagte ihre Kundgebungen ganz ab. Die Partei von HDP-Chef Selahattin Demirtas verlor bei dem Doppel-Selbstmordanschlag vom 10. Oktober mehrere Dutzend Anhänger. Schon vor der Wahl im Juni waren bei einem Bombenanschlag auf eine HDP-Veranstaltung vier Menschen getötet worden.

Demirtas wirft dem Staat vor, in den vermutlich von Anhängern der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) begangenen Gewaltakt verwickelt gewesen zu sein. Nach Presseberichten kannten die Sicherheitsbehörden die beiden Selbstmordattentäter, schritten aber nicht ein. Seine Partei wolle die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen, sagte Demirtas. "Der 1. November ist die erste Stufe dabei."

Andere Erdogan-Gegner denken ähnlich. Bei aller Trauer und Wut sei es wichtig, die anstehende Wahl nicht aus dem Auge zu verlieren, schrieb der Journalist Hasan Cemal, einer der prominentesten Kritiker von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Um die Gewalt zu beenden, müssten die Wähler "zu Erdogan Nein sagen".

Im Gegenzug bemüht sich Erdogans Regierungspartei AKP, sich selbst als Garantin der inneren Sicherheit und die HDP als Terrorhelferin der kurdischen PKK-Rebellen hinzustellen. Erdogan versprach eine Aufarbeitung von Pannen der Sicherheitsbehörden im Vorfeld des Anschlags, wies die Vorwürfe einer staatlichen Verwicklung aber zurück.

Ministerpräsident Ahmet Davutoglu äußerte unterdessen den abenteuerlich anmutenden Verdacht, der IS und die PKK könnten bei dem Anschlag zusammengearbeitet haben - obwohl sich beide Gruppen im Nordirak und in Syrien bekämpfen. Die regierungsnahe Presse verbreitet die Theorie, der Anschlag sei eine Art blutige Wahlkampfhilfe für die HDP gewesen. Diese Hinweise auf angebliche Verschwörungen könnten der AKP am Wahltag helfen. Schon bei früheren Anschlägen habe sich gezeigt, dass bis zu 40 Prozent der türkischen Wähler an ein finsteres Komplott des Auslands glauben, sagt der Meinungsforscher Murat Gezici. Von Vorteil für die AKP sei zudem, dass die Sorgen vieler Wähler um die steigende Arbeitslosigkeit und die lahmende Konjunktur wegen des Anschlags in den Hintergrund getreten seien.

Umfragen regierungsnaher Institute sehen die AKP nur noch knapp unter der Marke von 276 Parlamentssitzen, die eine Alleinregierung ermöglichen würden; im Juni war die Partei von fast 50 auf 41 Prozent der Wählerstimmen abgestürzt und hatte ihre Mehrheit verloren. Erdogan ließ die Neuwahl in der Hoffnung ansetzen, dass diese Scharte ausgewetzt wird. Sein Fernziel bleibt es, das derzeitige parlamentarische System durch ein Präsidialsystem zu ersetzen, das ihm weitgehende Vollmachten einräumen würde.

Doch Meinungsforscher Gezici ist überzeugt, dass die Erdogan-Partei erneut ohne eigene Mehrheit dastehen wird, weil viele Kurden der HDP ihre Stimme geben werden. In dem Umfragen liegt die Kurdenpartei zwischen 10,5 und 13 Prozent. Sollte die Wahl auch diesmal keine AKP-Alleinregierung hervorbringen, wird Erdogan kaum eine weitere Wiederholung anordnen können. Seinen Traum vom Präsidialsystem wird er dann begraben müssen.

Sorge im Bundestag Die angespannte Lage in der Türkei nach dem blutigen Anschlag in Ankara hat zwei Wochen vor der Wahl auch den Bundestag beschäftigt. In einer von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beantragten Aktuellen Stunde forderte der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Niels Annen, vergangene Woche den türkischen Staat auf, "ordnungsgemäße Wahlen sicherzustellen und die Meinungsfreiheit zu garantieren". Erdogan sollte außerdem den Friedensprozess mit der PKK wieder aufnehmen. Sevim Dagdelen (Die Linke) sah mit dem Anschlag die "blutige Saat Erdogans" aufgegangen, "Andersdenkende als Terroristen zu diffamieren und sie zur Zielscheibe zu erklären". Er führe Krieg "ausgerechnet gegen diejenigen, die sich dem barbarischen Islamischen Staat am effektivsten entgegenstellen", sagte sie mit Blick auf die Kurden. Andreas Nick (CDU) verwies jedoch darauf, dass bei aller Kritik an der türkischen Regierung, nicht übersehen werden dürfe, dass es sich bei der PKK um eine terroristische Vereinigung handele, "die auch in Deutschland zu Recht verboten ist".

Claudia Roth (Grüne) fragte angesichts des dritten Terroranschlags auf türkische Oppositionelle in diesem Jahr besorgt: "Wo ist Sicherheit für die, die sich für Frieden und ein Ende der Gewalt in der Türkei einsetzen?" Erdogan warf sie vor, einen Wahlkampf zu führen, "in dem jedes Mittel geheiligt scheint" und das Land zu einer "Autokratie à la Putin" umbauen zu wollen. Kritisch bewertete die Opposition auch die avisierte Türkeireise von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Wochenende. Sie wollte dort mit Erdogan über Möglichkeiten zur Eindämmung des Flüchtlingsstroms nach Europa sprechen. Merkel unterstütze damit "de facto den Wahlkampf von Erdogan", warf Roth der Regierungschefin vor und forderte sie auf, in der Türkei neben Erdogan auch Oppositionspolitiker und Vertreter der Zivilgesellschaft zu treffen und "klare Worte" zu sprechen. Dagdelen urteilte: Auch weil Erdogan "erwiesenermaßen" Waffen an "islamistische Terrorbanden" in Syrien liefere, dürfe er kein Partner für die Bundesregierung sein.

In ihrer Regierungserklärung zum EU-Gipfel (siehe Seite 4) ging Merkel auf die Kritik ein und versicherte: Im Gespräch mit Erdogan würden neben der Flüchtlingskrise "alle Fragen auf den Tisch kommen", auch Menschenrechte und Kampf gegen den Terrorismus.